Vor einigen Wochen bin ich in die Berge gefahren. Es regnete die ganze Zeit. Aber das machte nichts, ich war in einem Wellness-Hotel. In einem Wellness-Hotel ist dir die Außenwelt ganz wurscht. Du gehst in die Sauna. Lässt dich mit warmem Öl begießen. Schläfst auf einer Matte, während eine zierliche Philippinin auf deinem Rücken hin und her geht und ihn mit Fußsohlen massiert. Die Menschen, die dich umgeben, heißen Rebekka, Petra oder Trixi. Sie sagen: Darf ich Sie zu einem Kuchenbuffet entführen? Darf ich Sie zu einem Gläschen Sekt verführen? Darf ich Sie mit einem Tee verwöhnen?
So geht das den ganzen Tag. Und ein Tag ist hier nicht einfach ein Tag. Ein Tag ist ein »Wohlfühltag«. Oder ein »Erlebnistag«. Und der Abend? Vielleicht ein »Kuschelabend«? Man badet hier in Substantiven, studiert die Liste der »Verwöhnleistungen« und stößt plötzlich auf das Angebot von Gabriele, der Yogalehrerin, die durch Entspannung und Meditation das »Wolfbefinden« des Gastes steigern will. Gabriele…!? Uhuuuuu! Wie ist Ihnen, Gabriele, dieser Freud’sche Tippfehler unterlaufen? Haben Sie das so satt: all die Wellness-Luschen, die sich wohlbefin-den wollen, gewickelt, gebadet, gefüttert, getränkt – infantilisiert?
Mir fällt dazu der Brief von Leser J. aus Schwabmünchen ein, der mich im Mai erreichte. J. wies auf die Internetseite von Tchibo hin. Wenn man dort im Suchfeld das Wort »Mann« eingab, erschien in der Übersicht gefundener Artikel als Erstes ein »Plüschteddy-Bastel-Set«, dazu die Artikelbeschreibung: »So bastelt man sich einen besten Freund. Komplett-Set zum Selbermachen.«
Es regnete, wie gesagt, in den Bergen. Man sah sie nicht vor Wolken. Beim Berglauf an der Zugspitze waren zwei Männer ums Leben gekom men, dann ein Bergsteiger am Nanga Parbat, dann mehrere am K2. Zum Zugspitz-Lauf hatte Reinhold Messner gesagt: »Der Berg ist zu etwas missbraucht worden, wofür er nicht geschaffen ist.«
Aber wofür ist der Berg geschaffen?, dachte ich. Damit Reinhold Messner ihn besteigt? Ist der Berg nicht zwecklos? (Ausgenommen der Irschenberg, dessen Zweck es ist, in den Sommerferien Urlauberautos zu stauen.) Kann nicht jeder mit ihm machen, was er will? Wenn Menschen den Berg zu besteigen versuchen und dabei ums Leben kommen, ist es dann nicht das gute Recht anderer Menschen, beim Berglauf ihr Leben zu lassen?
Ich griff zu Messners Mein Leben am Limit und las es an einem Tag. Er schreibt über den Tod seines Bruders am Nanga Parbat: »Niemand, der bergsteigt, will je noch einmal so etwas erleben, wenn er/sie es überlebt hat. Ich aber bin zwischen dem Wunsch, es nie wieder zu erleben, aber gleich starke Erfahrungen wieder und wieder zu haben, gefangen… Im Widerstand gegen den Tod erfahren wir Menschen erst unser Menschsein.
Die tiefsten Gründe, auf Berge zu steigen… liegen in dieser Paradoxie verborgen. Das Geheimnis liegt darin, dass ich die stärksten Erfahrungen nur haben kann, wenn ich bis an den Rand der Möglichkeiten gehe.«
Also sind die Berge dafür da, dass man an ihnen starke Erfahrungen machen kann. Das wollten die Bergläufer auch! Bloß dass sie den Berg nicht ernst genug genommen haben. Der Berg will ernst genommen werden. (Sogar der Irschenberg!) Genau deshalb betrachte ich persönlich alle Berge nur von fern. Und ich liebe Bücher, in denen man von starken Erfahrungen anderer lesen kann! Dazu sind Bücher da: dass man allzu starke Erfahrungen nicht selbst machen muss.
Ich las also Messner: über entsetzliche Kälte, erfrorene Zehen. Übers wahre Wolfbefinden. Es gibt keine bessere Wellness-Lektüre als ihn, dachte ich in meinem Hotel und schlappte zum Bergkräuter-Aufguss in die Sauna.
In der Zeitung stand übrigens, Potsdamer Geologen hätten herausgefunden, dass Gebirge wüchsen, wenn man sie gut wässert. Teile der Anden hätten sich vor drei Millionen Jahren stärker gehoben als andere Anden-Teile – und zwar wegen dort üblicher starker Regenfälle.
Ich blickte aus dem Hotelfenster durch Regenschleier auf Felswände. Man hörte plötzlich bis hier drinnen ein Knirschen und spürte, dass hinter den Wolken, im gut begossenen Gestein, Unbeschreibliches geschah.
Auf dem Heimweg traf ich am Starnberger See Freund T., in seiner Gesellschaft den Maler N. Dessen Frau war mit der kleinen Tochter neulich am Golfplatz vorbeigefahren.
»Mama, was machen die Leute da draußen?«
»Sie spielen Golf.«
Lange Pause. Dann, leise: »Aber wenn sie Wolf gespielt haben, werden sie wieder Menschen, oder?«
Illustration: Dirk Schmidt