Man beginnt das Jahr lustlos, nicht wahr? Das hat es selten gegeben, dass einem gleich 365 Tage im Voraus komplett vermiest worden sind. »2009 wird ein Jahr schlechter Nachrichten sein«, hat Angela Merkel gesagt. Alfred Polgar schlug vor 74 Jahren vor, Jahre nicht zu nummerieren (Polgar schrieb »numerieren«, die Zeiten waren noch schlechter als heute und man musste auch an Konsonanten sparen), sondern ihnen Namen zu geben, »Rose-Marie« oder »Der gute Freund« oder »Segen der Liebe«. Das ganze Jahr geriete unter den mystischen Einfluss so eines Titels. Eine internationale Kommission von Weisen, derem Spruch sich die Welt widerspruchslos zu unterwerfen hätte, würde über die Namensgebung entscheiden; sie könnte auch einen Menschen durch einen Jahresnamen ehren, weit wirkungsvoller als durch den Nobelpreis möglich. Mit der Idee sind wir allerdings für 2009 zu spät dran. Es wird »Das Jahr schlechter Nachrichten« sein.
Man müsste solche Jahre auslassen. Es existiert, nebenbei gesagt, eine (leider nicht besonders gut belegte) Theorie, wonach es einen erheblichen Teil des Mittelalters nicht gegeben hat. Das Ganze geht auf einen Fehler bei der Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. zurück und ist äußerst kompliziert, aber es würde bedeuten, dass die Jahre zwischen 614 und 911 reine Erfindung sind. Es gibt sie im Kalender, aber in ihnen hat nichts stattgefunden. Man hat sich stattdessen etwas ausgedacht, um sie nicht aus dem Kalender streichen zu müssen. Karl der Große? Eine literarische Figur. Karl der Kahle? Ludwig der Blinde? Zwentibold von Lothringen? Ludwig der Stammler? Pippin der Mittlere? Erfindungen eines Mannes mit Faible für komische Namen.Übrigens finde ich es nicht unwahrscheinlich, dass auch wir alle nur Erfindungen sind, mit deren Hilfe man ein Kalenderproblem zu lösen versucht. Ich halte es für absurd, dass es Wesen geben könnte, die behaupten, man werde im Genfer Protonenbeschleuniger 2009 in riesigen unterirdischen Rohren unsichtbare Teilchen auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen; das ist doch lächerlich. Die eine Joghurtsorte »Der Große Bauer Aloe Vera Rose« nennen. Die freiwillig das deutsche Fernsehprogramm sehen. Die ihre Jahre nummerieren, statt ihnen schöne Namen zu geben. Wir sind Produkte einer ganz abgefahrenen Fantasie. Irgendjemand amüsiert sich mit uns.
Man könnte 2009 natürlich auch verschlafen. Wie Dornröschen viele Jahre verschläft. Oder wie der Bauer Rip van Winkle, eine Figur des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving, eines Tages im Wald in einen zwanzig Jahre währenden Zauberschlaf fällt, an dessen Ende er nicht mehr Untertan des englischen Königs ist, sondern Bürger der Vereinigten Staaten. Wir würden erwachen in einer krisenlosen, angstfreien Welt… Hat nicht der verstorbene Börsenexperte André Kostolany gesagt, wer Aktien kaufe, solle danach ein starkes Schlafmittel nehmen und erst nach Jahren seine Aktienwerte wieder ansehen, um sich die Erregungen des Auf und Ab zu ersparen.
Kann man sich auch ohne Aktien schlafen legen, bitte?
Wir leben in Zeiten der Verkürzung, Verkleinerung. Immer mehr Daten werden auf immer kleinerem Raum aufbewahrt, irgendwann wird alles im Nichts gespeichert sein. Sprache wird immer knapper: Im Englischen wurde aus Breakfast und Lunch der Brunch, aus einem Lächeln machen wir ein :-). Manchmal fliegen wir für ein paar Stunden von hier nach dort. In absehbarer Zeit möchte der britische Unternehmer Richard Branson Touristen per Flugzeug Richtung Weltraum transportieren, wo sie eine Zeitlang in der Schwerelosigkeit verbringen können. Wie lange? Irgendwas zwischen vier und sechs Minuten. Die Fünf-Minuten-Reise. Wie wär’s mit dem Fünf-Minuten-Jahr?
Geht alles nicht? Dann bringen wir’s eben hinter uns.
Illustration: Dirk Schmidt