Der vergangene Winter war nicht der beste Winter in der Geschichte der Bahn. Andererseits muss man auch erwähnen, dass ich eines sehr frühen Morgens im Dezember von Frankfurt nach München fliegen wollte: In München wartete mein Lieblings-Orthopäde um halb zehn mit einer Spritze auf mich. Es schneite die ganze Nacht wie blöd, ich übernachtete am Flughafen im Hotel. Um fünf erfuhr ich mit einem Blick aufs Handy, der Flug sei annulliert worden.
Ich sprang in die Klamotten, packte den Koffer, rannte zum Flughafen-Bahnhof, vorbei an Schlangen vor Flugschaltern. Am Bahnhof stieg ich in einen ICE nach München. Ich saß fast allein in einem Großraumwagen, irgendwo schnarchte ein Inder. Ich bekam Kaffee. Ich las Zeitung. Bei Aschaffenburg ging die Sonne auf. Wir rasten durch Schneelandschaften, über uns kein einziges Flugzeug. Die Fahrt dauerte dreieinhalb Stunden. Das Leben war schön. Mit zehn Minuten Verspätung schob mir der Orthopäde eine Spritze ins Fleisch.
Bruno, mein alter Freund, der fast nie Bahn fährt, schickte mir ein YouTube-Video. Darauf sah man einen hupenden Zug durch den Schnee rasen, das heißt, man sah zunächst gar keinen Zug, nur Schnee, und hörte dieses Hupen, sah Schnee beiseitefliegen, und im Schnee war das Hupen drin. Es sah aus, als arbeite sich ein riesiger hupender Schlickwurm durch Schnee - dann raste der Zug über einen Bahnübergang und war weg.
»Geht doch!«, schrieb Bruno. Über dem Video stand, es handle sich um einen Zug in Russland. Das stimmte nicht, man konnte kurz das Schild Railroad Crossing erkennen. Es war ein amerikanischer Zug, er fuhr, wie jemand in einem Beitrag dazu schrieb, zwischen Kansas und Colorado, auf der Kyle-Railroad.
In den anderen Beiträgen hoben die Zuschauer hervor, wie sehr sich die Bahn ihrer jeweiligen Länder ein Beispiel an diesem Zug nehmen sollte, der, dem Winter trotzend, unbeirrt durch den Schnee stob. Es waren Beiträge aus Deutschland, England, Skandinavien und den Niederlanden.
Anscheinend ist man so gut wie nirgends zufrieden mit der Bahn. Außer in Amerika eben, wobei: Die zuschauenden Amerikaner beklagten sich, dass die Züge in den USA zwar Schnee ignorieren könnten, dafür aber sonst nie so schnell führen wie die ICEs oder TGVs in Europa. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Videos amerikanischer Züge, die durch Schneewechten rasten, weite Ebenen durchquerten, auf denen vor lauter Schnee kein Gleis zu sehen war, Züge, die riesige Schneefontänen hochspritzten und in deren Loks die Männer nichts sehen konnten, nur Schnee. Es war der Wahnsinn. Ich konnte meine Augen nicht abwenden. Ich liebte es, Züge zu sehen, die durch Schnee fuhren, als wäre kein Schnee da.
Richten wir den Blick nach vorne. Ostern wird kommen, dann Pfingsten, der Sommerurlaub. Staus auf allen Autobahnen, neuer Grund zur Klage. In der chinesischen Stadt Wuhan gibt es eine Firma, die einen Service für Leute anbietet, die im Stau stecken, aber dort nicht stecken bleiben wollen: Ein Motorrad kommt und holt den Fahrer ab, auf dem Rücksitz; ein Angestellter der Firma wartet dafür im Auto auf das Ende des Staus. Dahinter steckt der Gedanke, dass wir alle einen Vertreter brauchen, der für uns unangenehme Dinge erledigt, einen Schlangen-Mann, der samstags an der Ikea-Kasse für uns wartet, während wir Köttbullar essen, ein Zahnarzt-Double, einen Klon für langweilige abendliche Einladungen, einen Typen, der an unserer Stelle im Winter auf Flughäfen übernachtet. Warum tut die Dienstleistungsgesellschaft so wenig für uns? Warum müssen wir alles immer anmahnen? Warum gibt es in China etwas, was auch der ADAC längst hätte bieten können, die ADAC mobilKarte Platin: mit Abholung per Hubschrauber aus dem Stau.
Manchmal träume ich auch, mit einer riesigen, heiser trötenden Lokomotive durch den Auto-Stau zu fegen, während links und rechts Lkws und allerhand Campingwagen weit zur Seite spritzen.
Illustration: Dirk Schmidt