Im Grunde sehe ich fast nie fern, von ein paar Minuten Nachrichten alle paar Wochen mal abgesehen, wenn es der Zufall will. Und manchmal Harald Schmidt, wenn ich nachts nach einer Lesung ins Hotel kam, das war immer so seine Zeit. Nicht, dass ich was gegen Fernsehen hätte, im Gegenteil, ich würde es lieben, abends einfach auf der Couch zu liegen: die Nachrichten, das Wetter, dann einen Film, den Tatort oder einen Polizeiruf meinetwegen, solche Sachen, auch Tierfilme oder Dokumentationen. Aber erstens bin ich oft abends nicht daheim, sondern sitze auf einer Theaterbühne und lese den Leuten vor. Und zweitens: Wenn ich daheim bin, habe ich keine Zeit zum Fernsehen. Ich koche, ich esse, ich rede mit Familienangehörigen, ich bringe ein Kind ins Bett, ich repariere eine Lampe, ich hole Getränke aus dem Keller, ich gieße die Blumen. Außerdem lese ich ganz gern, so für mich, meine ich jetzt. Wenn die Talkshows beginnen, schlafe ich.
Ausnahme: Fußball. Die wichtigen Spiele stehen bei mir lange vorher im Kalender. Ich gebe das rechtzeitig im Familienkreis bekannt, das Wohnzimmer ist dann von mir besetzt, niemand darf sich dort zeigen, der sich nicht für Fußball interessiert, also bin ich in der Regel allein. Ein Sky-Abonnement habe ich nicht, ist mir zu teuer; bei manchen Spielen muss ich also in die Kneipe gehen, was ich nicht mag. Das Pokal-Halbfinale FC Bayern gegen Mönchengladbach – da stand ich neben einem Typen mit Dortmund-Schal, der sich an den falschen Stellen freute. Verstehen Sie mich richtig, das ist jedem unbenommen, sein Schal, seine Freude, aber ich habe doch auch meine Rechte, in einem Lokal. Er kann sich ja freuen, aber muss er es so zeigen, neben mir?
Am liebsten sehe ich Fußball nur für mich, sogar der Kommentator stört mich, oft drehe ich den Ton weg. Ich führe Selbstgespräche, schreie herum, beschimpfe gegnerische Spieler in einer indiskutablen Art, bitte, ich will darauf nicht näher eingehen, es ist Wahnsinn. Unzivilisiert ist das Mindeste, nein, es ist sehr roh. Ich möchte nicht, dass mich andere Menschen in diesem Zustand erleben. Es ist eine Sache zwischen dem Fußball, dem Leben und mir, das geht niemanden etwas an.
Im Stadion war ich schon lange nicht mehr, aus diesem Grund natürlich, aber auch, weil es zu mühsam ist. Außerdem hat Fußball in der Realität gegenüber dem Fußball im Fernsehen gravierende Nachteile, keine Nahaufnahmen, keine Wiederholungen, keine eingeblendeten Abseitslinien. Es gefällt mir, dass es dem Menschen im Fußballfernsehen gelungen ist, grundsätzliche Mängel der Schöpfung aufzuheben, also zum Beispiel den dauerhaften, unabänderlichen Fluss der Zeit zu verlangsamen.
Man muss sich ja nur mal vorstellen, der liebe Gott hätte auch die Zeitlupe in unser Leben integriert. Man könnte dann jederzeit das Leben, wenn es einen besonders interessiert oder einem besonders gefällt, langsamer laufen lassen.
Die Zeit dehnen während der Schlüsselszenen des Lebens oder auch nur während eines Kusses, eines ersten Schluckes aus dem Bierglas, eines Blickes. Jeder weiß, dass während der Zeitlupe das Spiel weitergeht, dass man es aber nicht sieht, weil es nicht so interessant ist wie das, was in Zeitlupe gezeigt wird. So könnte es auch im Alltagsleben sein.
Ist es aber nicht, weil es dem Schöpfer damals nicht eingefallen ist, vermutlich. Insofern hat die Welt im Fußballfernsehen eine gewisse Vervollkommnung erfahren. Wie es überhaupt Dinge im Fußball gibt, die mir im Leben fehlen, mein Gott, ja, ich hätte gerne einen Trainer, der mich mental und taktisch auf meine Aufgaben einstellt, ich fände es gut, ein Schiedsrichter würde gewisse Leute in meinem Leben wegen ihres Foulspiels einfach des Feldes verweisen, ich würde gerne mal nach einem gelungenen Satz mein schweißnasses Hemd in ein jubelndes Publikum werfen, auch gefiele es mir, gäbe es ab und zu mal Einwurf, also: Plötzlich ein Pfiff, alle bleiben stehen, überall, das Leben macht Pause, man hat Gelegenheit, eine neue Position zu suchen, sich besser aufzustellen. Erst wenn irgendwo da hinten auf der Straße jemand einen Ball wieder ins Leben geworfen hat, geht es weiter. Was ich sagen wollte: Diesen Samstag gucke ich fern.
Illustration: Dirk Schmidt