In Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein gibt es den Satz: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.«
In Rom gibt es Männer, die davon lebten, sich - als römische Legionäre verkleidet – vor dem Kolosseum zusammen mit Touristen fotografieren zu lassen, gegen einen von den Touristen zu entrichtenden Obolus. Auch von mir und meinem Sohn Luis muss es irgendwo ein solches Bild geben: Luis, ein Legionär und ich.
Der römische Bürgermeister Gianni Alemanno (übersetzt etwa: Hannes Deutsch) hat diesen Männern die Ausübung ihres Berufes nun untersagt, er wolle nicht, sagte er, dass vor einer der größten Sehenswürdigkeiten seiner Stadt Leute mit Plastikschwertern herumstünden und Besucher belästigten. Die Legionäre protestierten, es gab eine Demonstration, alles vergeblich.
Man muss sich vorstellen, was das für das Leben dieser Werktätigen bedeutet: Jahrzehntelang verließen sie morgens das Haus, Kinder zurücklassend, die dachten, der Vater begebe sich in einen schweren Streit, gegen die Gallier zum Beispiel, oder er habe es vielleicht sogar im Kolosseum mit Löwen zu tun (denn es gab auch solche, die als Gladiatoren kostümiert in den Lebenskampf zogen, mancher sogar als Cäsar mit Lorbeerkranz). Auch blieben Frauen zurück, denen diese Männer abends einige schöne Geldscheine in die Hand drücken konnten. Kurz: Nicht nur hielten es die Männer für ihr Leben, Legionäre zu sein; andere dachten das noch viel mehr von ihnen. Sie glaubten die Geschichte.
Und nun? Was tut man, wenn man nichts gelernt hat, als sich in einer Uniform mit anderen fotografieren zu lassen? Was erzählt man seinen Kindern? Wovon ernährt man sie? Was geschieht, wenn die Geschichte, die man für sein Leben hielt, plötzlich nicht mehr zum Leben passt? Hat sie je gepasst? Was muss das für ein Trauma sein, wenn ein junger Römer, der seinen Vater für Cäsar hielt, ihn eines Tages im Internet auf Touristenfotos sieht, mit einem lächerlichen Deutschen neben sich?
Jedenfalls las ich jetzt, man sehe bisweilen vor der Spanischen Treppe einen solchen Cäsar in Begleitung von Brutus, auf der Suche nach Kunden. Die Spanische Treppe! Sie ist nicht mal 300 Jahre alt. Was für eine traurige Geschichte! Gerade stelle ich mir vor, ich müsste meinen Lebensunterhalt als Ludwig II. vor Neuschwanstein verdienen oder als Oberbayer vor dem Hofbräuhaus. Oder als Flamingo vor den Toren von Münchens Zoo Hellabrunn.
Übrigens hielten es auf der griechischen Insel Zakynthos einige hundert Leute für eine gute Geschichte, ihren Lebensunterhalt als Blinde zu verdienen: Sie bestachen den Amtsarzt und kassierten Blindenrente, was so gut funktionierte, dass der Blindenanteil in der Bevölkerung von Zakynthos zehnmal so hoch war wie in Deutschland. Auch anderswo hörte man von diesem Trick. Im Bezirk Lakonien auf dem Peloponnes zum Beispiel besserte sich ein Blinder seine Rente als Taxifahrer auf, ein Phänomen, das mir allerdings neulich auch in Frankfurt begegnete, von jenen zahlreichen deutschen Sehbehinderten, die nebenbei als Fußballschiedsrichter tätig sind, mal ganz abgesehen.
Auf Zakynthos flog die Sache nun auf. Auch hier beendete ein Bürgermeister das Spiel, worauf er von erstaunlich treffsicheren Exblinden mit Tomaten und Joghurt beworfen wurde. So leicht lässt sich in Griechenland niemand die Geschichte kaputt machen, die er für sein Leben hält.
Übrigens ist auch Max Frischs Gantenbein einer, der die Rolle des Blinden spielt. Er sieht alles und tut, als sähe er nichts, was ihn, da man seinen Blick nicht fürchten muss, zu einem sehr beliebten Zeitgenossen macht – bis die Geschichte halt zu Ende ist. Das ist ja das Problem: Wenn man eine Geschichte erfindet, die man für sein Leben halten will, sollte sie möglichst nicht enden. Und es sollte eine sehr gute Geschichte sein. Die meisten Geschichten sind nicht gut genug, leider. Das Leben schreibt die besseren – oder sagen wir: stärkeren.
Illustration: Dirk Schmidt