SZ-Magazin: Vor 75 Jahren, zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hat sich die Gruppe 47 gegründet, ein Verbund von deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Sie wollten die noch junge Bundesrepublik prägen. Auch jetzt stehen wir wieder vor großen Herausforderungen. Würden Sie mit den hier Anwesenden eine solche neue Gruppe, eine Gruppe 22, gründen?
Lukas Rietzschel: Für den Austausch schon, aber ich habe totale Hemmungen vor Leuten, die wirklich Ahnung haben, meine Texte vorzulesen, so wie es bei der Gruppe 47 ablief. Sich dieser Kritik auszusetzen und ohne Widerworte über sich ergehen zu lassen, das wäre nichts für mich.
Senthuran Varatharajah: Ich glaube nicht an irgendein Kollektiv, und auch nicht an das Sprechen und Schreiben im Kollektiv. Das, was man von der Gruppe 47 weiß, bestätigt das nur. Nach der Lesung von Paul Celan, der neben Ilse Aichinger der einzige Jude in dieser Gruppe war, sagte Milo Dor: Er habe in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge. Die alten Nazis, die dort auch saßen, haben nicht verstanden, dass sie aus anderen Erfahrungen sprechen und schreiben als jemand, der unmittelbar von der Shoah betroffen war. Sie haben Celan an ihren Kriterien gemessen. Das ist die Realität des Kollektivs, die auch ich in ganz anderer Form kenne, auch aus den wenigen Prosa-Werkstätten, an denen ich teilgenommen habe. Nichts davon hat mir etwas gebracht, ganz im Gegenteil.
Deniz Utlu: Niemand schreibt für sich allein. Ich glaube, dass das Schreiben immer in Bezug mindestens zum »Du« stattfindet und deshalb auch dazu einlädt, sich mit der Sprache, den Positionen, dem Sehen und Empfinden von anderen auseinanderzusetzen. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist das Gespräch über die Texte. Dafür muss es aber möglich sein für Autor*innen, die Diskriminierungserfahrungen machen, einen Text vorzutragen, ohne angegriffen zu werden, letztlich aus Gründen, die nichts mit dem Text zu tun haben, ähnlich wie bei Celan 1952. Es gab immer wieder Ansätze und Bewegungen in Deutschland, die das versucht haben, Audre Lorde in Berlin mit ihren Studentinnen, darunter auch May Ayim. Die wollten antirassistisch und feministisch über Literatur reden. Das ist damals nicht in den Literaturbetrieb hineingesickert, aber es ist etwas entstanden, nämlich eine ganze Tradition des Sprechens und Zuhörens, in der Kritik zulässig ist, aber das Wissen um Diskriminierung eine Rolle spielt.
Nora Bossong: Eine Gruppe 47, wie sie damals war, würde ich mir auf keinen Fall wünschen. Ich würde auch nicht sagen, dass das ein kollektives Schreiben war, es war das Gegenteil. Wichtig wäre mir, differenziert auf die Gruppe zu schauen: Ingeborg Bachmann hatte eine andere Position und politische Haltung in den Jahren bis 1945 als andere Teilnehmer. Meine Antwort auf die Frage nach einem Schriftstellerverband ist im Moment der PEN Berlin. Wir streiten für Meinungsfreiheit. Kann man das mit der Gruppe 47 vergleichen? Nicht wirklich.
»Eine Gruppe bringt sofort Gewalt mit sich«
Vor 75 Jahren gründete sich das Literaturkollektiv »Gruppe 47«. Wir haben mit fünf Autor*innen über die Fragen gesprochen: Braucht es wieder eine Bündelung der literarischen Kräfte? Darf man noch außerhalb seiner Biografie erzählen? Und werden Bücher durch Instagram zu Lifestyle-Produkten?