Als die Ferien zu Ende gingen, fuhr ich auf der Autobahn heim. Das Navigationssystem warnte mich vor einem Stau. Ich überholte noch schnell einen besonders langsamen Sonderschwertransport mit Blaulichtfahrzeugbegleitung, dann fuhr ich auf der Landstraße weiter, eine halbe Stunde lang für zehn Kilometer, über die Dörfer.
Als ich wieder auf der Autobahn war, ging es zügig weiter. Nach fünf Minuten überholte ich einen besonders langsamen Sonderschwertransport mit Blaulichtfahrzeugbegleitung. Er kam mir bekannt vor. Danach schaltete ich den Stauwarner in meinem Navigationssystem ab. Für immer.
Irgendwann – es ist wohl lange her – hielten die Menschen es für Fortschritt, dass es Stau-Meldungen im Radio gab und dass man diese Nachrichten in die Navigationssysteme der Autos einspeiste. Man wusste fortan: Es wird länger dauern, bis ich ankomme. Vielleicht sollte ich den Ausweichweg nehmen, den mir mein Routenplaner vorschlägt. Oder möchte ich lieber daheimbleiben?
Heute wissen wir: Die Einführung der Stau-Meldung war unnütz. Sie führt dazu, dass sehr viele Menschen den Stau umgehen wollen, sodass sich nun auf den Umgehungswegen ein Stau bildet, während der eigentliche Stau sich schneller auflöst, als man dachte. Das Einzige, was vom Stau bleibt, ist die Stau-Meldung, sie wird aber erst Stunden später wieder gelöscht. Die Menschen weichen also Staus aus, die es nicht mehr gibt. Und stehen im Stau.
Vor jeder Urlaubssaison warnen aus diesem Grund Verkehrsforscher die Reisenden: Ignorieren Sie die Radio-Nachrichten und fahren Sie, als ob Sie kein Navigationssystem hätten! Wenn man aber die Stau-Meldungen am besten ignoriert – warum gibt es sie dann überhaupt?
Dazu meine These: Es gibt überhaupt keinen Fortschritt, nur die Illusion davon. Die Stau-Meldung verschafft uns das Gefühl, wir würden das Leben zu unseren Gunsten beeinflussen. Wir beeinflussen es auch. Bloß sind die Folgen so gravierend, dass es besser gewesen wäre, wir hätten nichts getan. Was uns bleibt, ist das Gefühl, das Leben im Griff zu haben: Wir können ja Radio hören, wir können am Navi herumfummeln, wir können etwas tun. Auch wenn’s nichts bringt, wir empfinden es doch so.
In diesem Sommer wurde in Tolworth im Südwesten Londons ein Kuckuck gefunden, am Kopf verletzt durch Raubvögel, infiziert mit allerhand Parasiten. Das Tier wurde zur Niederlassung einer Tierschutz-Organisation gebracht. Dort pflegte man es gesund und nannte es Idemili, nach einer nigerianischen Flussgöttin – in Nigeria nämlich verbringt diese Kuckucksart den Winter. Es sind ja Zugvögel.
Bloß: Idemili hatte nun den Abflug der anderen Kuckucke dorthin verpasst, welche in Großbritannien auf der Roten Liste vom Fortschritt bedrohter Tierarten stehen. Was geschah? Eine Veterinär-Krankenschwester setzte sich mit dem Kuckuck ins Flugzeug nach Turin, wo sich, wie man wusste, die anderen bedrohten Kuckucke inzwischen befanden. (Man wusste das auf Grund von Satelliten-Daten.) Dort habe Idemili Anschluss gefunden, heißt es.
So ist das: Wir können heute bedrohte Zugvögel mit dem Flugzeug in den Süden bringen. Der russische Präsident fliegt sogar im Ultraleichtflieger Kranichen voran, um ihnen den richtigen Weg ins Warme zu zeigen. Im Zoo von Miami können Orang-Utans neuerdings auf einem iPad Fotos des Essens anklicken, das sie sich wünschen. Und wir sind in der Lage Staus auszuweichen, die es nicht gibt.
Der Fortschritt macht’s möglich. Ohne Fortschritt wär’s nicht nötig.
In der Zeitung stand unter der Überschrift »Die kleinen Läden haben eine große Zukunft vor sich«, die Handelsketten Rewe und Ahold eröffneten nun kleine Geschäfte, »Rewe to go« heiße das oder »Albert Heijn to go«. Der Konzern Tegut installiere auf dem Land sogar sogenannte »Lädchen für alles«. Der Tante-Emma-Laden sei wieder da! Wer war noch mal dafür verantwortlich gewesen, dass er verschwand? Es lebe der Fortschritt!
Illustration: Dirk Schmidt