Der berühmte, zu seiner Zeit avantgardistische Komponist John Cage hat mal ein Stück namens 4’ 33’’ komponiert (in Worten Four minutes, thirty-three seconds), eines jener Werke, über die Spießer gerne »Das kann ja jeder« höhnen. In 4’ 33’’ ist vier Minuten und 33 Sekunden lang kein einziger Ton zu hören. Jedenfalls kein vom Komponisten veranlasster, denn natürlich hört man trotzdem etwas, bei der Uraufführung 1952 zum Beispiel das Öffnen und Schließen des Klavierdeckels, mit dem der Pianist Beginn und Ende der drei Sätze des Stückes anzeigte – 4’ 33’’ ist für Klavier komponiert. Und da ist vielleicht auch das Husten des Nachbarn, der eigene Tinnitus, das Summen der Klimaanlage.
Cage kam, habe ich gelesen, die Idee zu diesem Werk, als er eine schalldichte Kammer an der Universität Harvard betrat, in der Erwartung, dort nichts zu hören. Er hörte aber doch was, einen hohen und einen tiefen Ton. Der hohe, erklärte ihm ein Fachmann, werde von seinem Nervensystem erzeugt, der tiefe gehe von seiner Blutzirkulation aus.
Was lernen wir daraus? Dass es Stille nicht gibt, jedenfalls nicht für uns, wir sind dafür nicht gemacht: eine, mag sein, banale Erkenntnis. Aber ist sie nicht erst banal geworden, weil Cage 4’ 33’’ komponiert hat?
Jedenfalls ist es doch bedauerlich, dass es Stille nicht gibt, denn wonach sehnen wir uns an manchen Tagen mehr als genau nach ihr? Die Zeiten werden immer lauter, vielleicht weniger im tatsächlichen als im metaphorischen Sinn: Kaum ist eine verdammte Debatte zu Ende, hebt schon die nächste an. Kaum haben sich die Zeitungen über Steinbrücks Honorare beruhigt, ziehen sie über Brüderle her. Kaum hat jeder seine Meinung über den Berliner Flughafen gesagt, kommt wieder der Stuttgarter Bahnhof dran. Und müssten wir uns nicht endlich mal wieder vor einem Grippevirus zu Tode fürchten?
Es kommt einem vor, als säße man Tag für Tag neben einem Radio, das keinen Lautstärkeregler hat, sondern immer auf Maximum steht. Die Welt ist voller Brüllbürger, Brüllmedien, dem Brüllnet.
Ist es also ein Wunder, dass genau jetzt sehr erfolgreich eine unscheinbare CD verkauft wird, die in einer kleinen, fast neunhundert Jahre alten Kirche in Seaford in der englischen Grafschaft East Sussex aufgenommen wurde? Die Kirchengemeinde dort wollte ein bisschen Geld für Reparaturen verdienen, deshalb stellte man für eine halbe Stunde ein Aufnahmegerät in den Sakralraum und presste das Aufgenommene auf eine CD. Die ist nun dauernd ausverkauft, aus Deutschland, Österreich, ja, Ghana kommen Anfragen. Man hört, nun ja: natürlich nicht nichts, das wissen wir seit Cage, sondern ab und zu leise Schritte, das Quietschen von Kirchenbankholz. Autobrummen im Hintergrund.
Großartige Idee, oder? Wie wäre es, man würde CDs veröffentlichen mit den Tönen eines Kuhstalls am frühen Nachmittag? Reine Landlust: Wiederkäuen, Strullen, das Klatschen von Kuhfladen, ab und zu ein leises Muh. Oder man legt zum Einschlafen »Angela Merkel beim Regieren« ein: kratzendes Abzeichnen von Gesetzen, ein geflüstertes Telefonat mit Hollande, das leise Klirren einer Kaffeetasse, dann der über Handytasten huschende Daumen, ein der FDP gewidmeter Seufzer. Was könnte entspannender sein als eine halbe Stunde »Helmut Schmidt raucht«? Was inspirierender als »Peter Handke beim Verfassen eines Absatzes von Mein Jahr in der Niemandsbucht«? Welch ein Hit wären »Bahnchef Grubes erste gedankliche Zweifel an Stuttgart 21«! So sanfte, kaum hörbare Grübelgeräusche.
Können nicht manche Männer auf Dienstreisen in Hotels schlecht schlafen, einsam, fern von ihrer geliebten Frau? Da wäre es schön, sie hätten eine CD mit dem regelmäßig-vertrauten Atmen der Schlummernden.
Und hörst du, Leser, jetzt gerade das kaum vernehmbare »Plopp« im Hintergrund? Das ist das Ende dieses Textes.
Illustration: Dirk Schmidt