Kürzlich las ich vor Publikum aus der Wumbaba-Trilogie, in der es um missverstandene Liedtexte geht. Nach je zehn Minuten Lesen improvisierte ein Pianist zu dem, was er von mir gehört hatte, auf einem Flügel wunderbar, um nicht zu sagen: wumbaba. Danach las ich wieder, worauf sich erneut Musik anschloss, der eine Lesung folgte.
Es gab dann ein Problem: Sobald das Flügelspiel begann, husteten Menschen. Kaum berührte der Klavierspieler die Tasten, räusperte sich jemand, ein anderer reagierte röchelnd, ein dritter ließ heiseres Chchch hören, der nächste explodierte gewaltig aus rotem Kopf, worauf ein Chor von Hchrrr, Hähem, Charrr, Böhöh antwortete.
Leise verzweifelnd, schließlich resigniert ins Publikum starrend improvisierte mein Begleiter, woraufhin ich wieder las – und zwar: in aller Stille. Das war das Phänomenale: Die Menschen husteten zur Musik, nie zum Text.
Nun ist das Thema »Husten im Konzert« ein seit Jahrzehnten in immer neuen Variationen behandeltes Thema. Loriot hat in seiner Hustensymphonie »konzertimmanente Geräuschsymptome« wie Husten, Niesen, zu frühe Klatscher und das Fallenlassen von Gegenständen dirigierend in die Musik integriert; Mobiltelefone gab es da noch nicht. Heinrich Böll behauptete in Husten im Konzert 1952, Menschen husteten zum Instrumentenspiel »wie Hunde, die sich am Bellen erkennen«. Keith Jarrett beschimpfte Hustende von der Bühne herab. Alfred Brendel sagte am Ende seiner Karriere auf die Frage, welchen Wunsch er noch hätte: »Dass niemand mehr in einem Konzert hustet.«
Alles vergeblich. Die Menschen husten ihre Röchelverzeichnisse durch, sobald der erste Ton erklingt. Kürzlich bewarf der Dirigent Michael Tilson Thomas, während er in Chicago Mahler dirigierte, das Auditorium mit Hustenbonbons, und auf der Internetseite der Pianistin Susan Tomes kann man lesen, bei einem ihrer Konzerte in der Carnegie Hall hätten sich die Menschen verhalten »wie Ochsenfrösche, die sich aus den verschiedenen Ecken des Sumpfes riefen«. Liegt es daran, dass sich Husten nicht unterdrücken lässt? Was für ein Unsinn, schrieb dazu die New York Times: Navy Seals husteten auch nicht, wenn sie sich an einen Terroristen-Unterschlupf anschlichen.
Warum husten Menschen in Konzerten? Warum hat niemand meinen Text hustend begleitet, es waren doch dieselben Menschen mit denselben Bronchien!? Warum hustet niemand im Kino, warum sieht und hört man auch auf Fußballtribünen niemand husten? Die Menschen grölen, wüten, jubeln, aber sie husten nicht. Man stelle sich vor, Fußballspiele hätten in kompletter Stille vor sich zu gehen, jemand hustete in die kirchliche Lautlosigkeit eines Elfmeterschießens hinein, irritiert verschösse der Schütze – was da mit dem Huster geschähe!
Geht Musik nicht nur ins Gehör, sondern auch in den Hals? Reizt sie die Schleimhäute?
Ich behaupte: Erklingt Musik, gibt es ein menschlich-soziales Urbedürfnis einzustimmen, mitzusingen. Überall, bei Pop- und Rockkonzerten, bei der Volksmusik, können die Leute das tun, sie können rufen, singen, summen. Nur bei Klassik sollen sie ruhig sein. Sie müssen sich dem Anspruch der Kunst unterwerfen.
Dabei ist das Husten kein Husten. Es ist dieses Sich-Räuspern, bevor man zu singen beginnt.
Jeder, der mal im Studio einer Fernsehshow war, kennt den Warm-Upper. Er stimmt das Publikum ein, erklärt ihm, dass es keine gute Show gibt, wenn es stumm da hockt, sondern dass es eine Rolle spielt: Es soll klatschen, jubeln, lachen. Warum gibt es das nicht vor klassischen Konzerten? Ein Art Cool-Downer stellt sich aufs Podium. Erläutert die Bedeutung der Stille in Mahlers 9. Sinfonie. Macht den Leuten ihre Rolle klar. Schließt einen Pakt mit ihnen: Wenn ihr nicht hustet, wird euer Erlebnis größer sein.
Und um dem Bedürfnis nach Einstimmen nachzukommen und dieses für eine Weile zu stillen, singt er mit ihnen, ein Schubert-Lied vielleicht oder einen Song von Whitney Husten, äh: Houston.
Illustration: Dirk Schmidt