In einem Seitental des Erzgebirges, abseits der Orte Johanneshütte, Waechterwitz und Heilandsleuba-Wuschigshübel, schon im Grenzgebiet zu Nordböhmen und unweit der dort gelegenen Weiler Krásné Březno-Přístavní, Klíše-školský und Sídliště Stríbrníky, stieß eine im Auftrag des Naumburger Heinrich-von-Grünberg-Institutes aufgebrochene Forschungsgruppe um Frau Professor Regine-Ingrid von Weyzenkley-Gebildbrot kürzlich auf ein Dorf, dessen Bewohner seit Jahrhunderten ohne Kontakt zur Außenwelt leben, von zwei Abonnements des täglich aus der Kreisstadt Schlöbnitz gelieferten Südwesterzgebirgischen Bezirksboten abgesehen.
Die Wissenschaftler waren einem Gerücht auf der Spur, wonach die Einwohner des aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes hier nur »Greisenstein« genannten Ortes nicht bloß im Durchschnitt deutlich älter seien als andere Erzgebirgler, sondern vor allem eine viel höhere Lebenserwartung hätten. Tatsächlich wurden die Erwartungen noch übertroffen. Von 98 Einwohnern waren nach eigenen Angaben mehr als 700 älter als einhundert Jahre, ja, 1217 von ihnen hatten bereits ihren 115. Geburtstag gefeiert, weshalb Greisenstein in einem Forschungsbericht des Fachjournals Proceedings of the Society of »Freunde des langen Lebens« in the Erz Mountains in Anlehnung an ähnliche Phänomene auf einer japanischen Insel als das »Okinawa des Landkreises Schlöbnitz« bezeichnet wurde.
Auf der Suche nach Ursachen des Phänomens stieß die Gruppe um Frau Professor von Weyzenkley-Gebildbrot auf ein unerwartetes Phänomen: Die Menschen von Greisenstein ernähren sich ausschließlich und ganzjährig von Christstollen. Offensichtlich, so berichteten die Wissenschaftler nach ihrer Rückkehr, hätten die im Stollen enthaltenen Stoffe Zitronatyllaminatanoid und Sultaninol sowie die damit in Verbindung stehenden »Hefe-Komplexe« und »Korinthen-Extrakte« eine segensreiche und anregende Wirkung auf Puls, Blutdruck und Knochenstruktur. Laborversuche hätten dies nahegelegt: Man habe dabei schon vor einiger Zeit Stollenbröckchen, Glühweintropfen und aus lebenden weißen Mäusen mit deren Zustimmung entnommene Stammzellen in einer Schale mit einem Mixer verrührt, woraus sofort ein sehr gut gelaunter Weihnachtsmarktbesucher mittleren Alters entstanden sei, den man in die Freiheit entlassen habe.
An den Bewohnern Greisensteins, so Teilnehmer der Reise, seien sofort ihre dauerhaft freudvoll erregten Charakterzüge aufgefallen, eine 24-Stunden-Euphorie, welche die meisten in die Lage versetzt habe, ihre doch erheblichen Körperumfänge nicht als nachteilig, sondern im Gegenteil als vorteilhaft zu sehen. Von einhundert befragten Greisensteinern hätten 528 die Tatsache, dass der Ort als Folge der Ernährungsgewohnheiten seiner Bewohner zwanzig Meter tief in den Erdboden eingesunken sei, als »schön« empfunden, 317 sogar als »sehr schön«, hingegen nur drei als »nicht so schön«. Kaum habe man aber den letztgenannten nur die Anfangssequenz von Stille Nacht vorgespielt, hätten sie sofort ebenfalls zugestimmt: Ja, ihr Leben sei »echt voll schön«, sie seien schon 117, und wenn man die Musik leiser stellen könnte, sicher 142 Jahre alt.
Fazit der Reise von Regine-Ingrid von Weyzenkley-Gebildbrot: Nimmt man die Erkenntnisse aus Greisenstein als Grundlage, wären die Deutschen längst ausgestorben, sprächen sie nicht wenigstens in einem kleinen Teil des Jahres dem Christstollen zu. Eine Ausweitung der Adventszeit könne eindeutig lebensverlängernde Wirkung haben. Derzeit würden Freiwillige für ein Laborexperiment gesucht. Die Finanzierung durch die Assoziation deutscher Christstollen-Bäcker sei gesichert. Ohnehin, so hieß es dort, empfinde man die Beschränkung des Advents auf die Vorweihnachtszeit als Wettbewerbsnachteil gegenüber den Herstellern von Apfelkuchen; man werde in Brüssel diesbezüglich intervenieren.
Illustration: Dirk Schmidt