Auf Lesereise (I): Nun beginnt die dunkle Jahreszeit, in welcher der Autor wie viele seiner Art das Land durchreist, um Abend für Abend an seltsamsten Orten aus seinen Werken zu lesen, von Ängsten geplagt: Werden die Leute mich verstehen? Wird der Veranstalter Geld haben, um mich zu bezahlen? Wird überhaupt jemand kommen? Das wäre ja das Schlimmste: dass keiner da ist. Oder nur wenige. Oder nur Onkel Bernd. Welche Kränkung das bedeuten würde! (Für den Autor erstens und, ja, auch zweitens für Onkel Bernd, der doch seinen Neffen als erfolgreichen Autor imaginiert hatte und nun erfahren muss, dass der Verwandte entweder lächerlich oder ein Hoch-stapler ist.)Wobei es mir einmal passiert ist, dass ich eine Geschichte las, in der ein Onkel namens Bernd vorkommt, in sehr lustiger und angenehmer Weise zunächst, was den nun tatsächlich anwesenden, aber mit der Geschichtenfigur wirklich nur Verwandtschaftsgrad und Namen teilenden Onkel Bernd sehr amüsierte, bis dann der Satz kam: »Onkel Bernd ist schon tot…«Und ich blickte auf und sah vor mir, in der ersten Reihe, Onkel Bernd, quicklebendig und bei bester Gesundheit, aber doch ein biss-chen seltsam berührt…Der Kollege H., Journalist und Buchautor, trat ja vor Jahren mal als Lesender in einer Landeshauptstadt auf, in der seine Zeitung auch einen Korrespondenten hat, den er höflicherweise zu seiner Veranstaltung einlud (und auch weil er vor ihm ein wenig renommieren wollte), nur leider war der Korrespondent dann der einzige Lesungsgast. Oder T., der Freund, welcher in seiner Heimatstadt lesen wollte und auch sollte, denn man hatte ihn dazu eingeladen – indes kam zu der Lesung nicht mal der Buchhändler, ja, im Grunde genommen erschien sogar T. selbst nicht wirklich, denn er wurde am Bahnhof von einem Abgesandten des Händlers begrüßt, der ihm einen Umschlag mit dem Honorar in die Hand drückte, etwas von Terminproblemen und Missverständnis murmelte und dann im Bahnsteiggewühl verschwand.Kann etwas schlimmer sein, den Autor ärger treffen als: dass niemand kommt?Ja.Und was?Dass sehr viele Leute kommen, die aber gar keine Lesung hören wollen. Das ist mir passiert, als ich von einem Internet-Buchhändler gebeten wurde, vor seinen Aktionären zu lesen, so zwei, drei Geschichten »in Ihrer gewohnt heiteren Weise«, als Auftakt und irgendwie angemessene Begrüßung zur Aktionärsversammlung nämlich (welche in einem Literaturhaus stattfand).Da stellte ich mich also vor die Leute, neben den Vorstandstisch, und las in gewohnt heiterer Weise, während das Publikum in sehr ungewohnter Weise schwieg. Auch an Stellen, an denen eigentlich immer, selbst in der Oberpfalz und im tiefsten Niedersachsen, wenigstens ein bisschen gelacht wird, schwieg dieses Publikum in geradezu aggressiver Weise – worüber ich (gewohnt heiter, doch schon ein wenig schwitzend) zunächst einfach hinweglas. Bis aus dem Publikum Rufe wie »Was soll das denn?!« oder »Wollen Sie uns verarschen?« heraufschallten, Rufe, die ich nun schon fast ungewohnt heiter, aber bereits sehr viel stärker schwitzend, immer noch ignorieren zu können glaubte.Aber dann rief jemand: »Schluss! Schluss!« Und ich, nun bereits in Schweiß gebadet, erkundigte mich nicht etwa einfach beim Rufer, was ihn denn so errege, ich trüge doch hier bloß gewohnheitsmäßig heiter Geschichten vor. Ich fragte also nicht einfach spontan nach, was ihn, den Rufer, und auch die anderen hier denn so unheiter stimme, nein, ich las ich mit nun schon von Schweiß geradezu erstickter Stimme einfach so heiter wie möglich weiter, zog also die Sache durch bis zu einer sonst in jedem Saal des Landes (nicht natürlich jedoch hier) bejubelten Schlusspointe, während derer ich bereits meine Unterlagen zusammenraffte und aus dem Saal flüchtete, vor die Tür, wo mir jemand erklärte, dass (wir befanden uns nämlich am Ende des großen Aktienbooms) der Börsenkurs des Internet-Buchhändlers in den vergangenen Wochenenden auf geradezu EM.TV-hafte Weise nach unten gerutscht war.So dass ich also vor Leuten gelesen hatte, die gerade große Teile ihres Vermögens verloren hatten und deshalb durch nichts, aber auch gar nichts oder allenfalls durch größere Geldgeschenke zu erheitern gewesen wären.Auf keinen Fall aber durch mich.