Das Beste aus meinem Leben

Der Luis spielt jetzt mit dem Gedanken, uns zu verlassen. Er möchte lieber in einer anderen Familie leben, der Familie vom Rudi, seinem besten Freund.Hier seine Gründe:Erstens dürfe man, sagt er, in der Familie vom Rudi so lange aufbleiben, wie man will, auch als Kind. Man müsse nicht bereits um halb neun das Licht ausmachen.Zweitens dürfe man auch so lange fernsehen, wie man wolle, auch ein Cartoon-Special um viertel nach acht dürften die Kinder dort sehen.»Auch wenn am nächsten Tag Schule ist?«, frage ich.»Natürlich!«, ruft der Luis. »Was glaubst denn du?«Drittens dürfe man Computer spielen, wann man wolle, und der Rudi habe sogar eine Konsole.»Was ist eine Konsole?«, frage ich.»Du weißt noch nicht mal, was eine Konsole ist…«, ächzt Luis. »Aber der Vater vom Rudi hat ihm eine gekauft!«Viertens seien überhaupt die Eltern vom Rudi viel netter als wir und sie führen auch nicht jedes Wochenende aufs Land, sondern blieben daheim, wo der Rudi fernsehen und Computer spielen und lange aufbleiben dürfe.»Das gibt es doch nicht«, sage ich. »Dass wir aufs Land fahren, weil du an der frischen Luft sein sollst, und damit du im Freien spielst, und dass wir dir nur eine halbe Stunde fernsehen erlauben, weil du nicht verblöden sollst, und dass wir dich nicht nur am Computer daddeln lassen, weil du danach immer ganz nervös bist, und dass wir dich früh ins Bett schicken, damit du morgens wach bist, und dass wir das alles tun, weil wir dich lieben – das gibt’s doch nicht, dass du das nicht verstehst. Und dass du nicht mehr bei uns wohnen willst.« »Doch, das gibt es«, sagte der Luis. »Und überhaupt sind die Eltern vom Rudi viel netter als ihr.«»Außerdem glaube ich sowieso nicht, dass es bei Rudi daheim so ist, wie du erzählst.«»Dann glaubst du’s eben nicht. Ist aber so.«Und weil er an diesem Abend nicht Sponge Bob im Fernsehen anschauen durfte, sondern zum Abendessen kommen musste, bekam er einen Rappel und aß extra nur ganz wenig, sperrte sich dann im Klo ein und warf später alle Kuscheltiere in hohem Bogen aus dem Zimmer auf den Flur.Gott sei Dank hatte ich am Tag zuvor ein Interview mit einem berühmten Kinderpsychologen gelesen.Wenn ein Vater nach Hause komme und seinem Sohn dann gleich das Fernsehen verbiete, hatte der Kinderpsychologe gesagt, empfinde der Sohn das als Liebesentzug. Der Vater müsse also eine Alternative anbieten, etwas, was man gemeinsam machen könne, Vorlesen etwa.»Luis!«, sagte ich. »Ich lese dir jetzt eine Geschichte aus dem Kleinen Nick vor.«»Mmmmmjaaaa…«, sagte er. »Zwei Geschichten.«»Gut«, sagte ich.Und so geschah es.Als ich fertig gelesen hatte, lagen wir noch ein wenig auf dem Bett und Luis sagte: »Der einzige Nachteil von Rudis Eltern ist, dass sie kein Auto haben.«»Brauchen sie ja auch nicht«, sagte ich. »Wenn sie nie aufs Land fahren und so viel fernsehen.«»Na ja«, sagte Luis.Koffer gepackt hat er jedenfalls nicht, bis jetzt.