Manchmal glaubst du, im Irrenhaus zu leben. Aber dann merkst du: Du bist nur zu Hause. Bei der Familie.Nehmen wir die drei Plastikspieße, die vor mir auf dem Schreibtisch liegen. Einer grün, einer orange, einer gelb. Plastikspieße, mit denen man Oliven auf Käsehäppchen befestigt oder Käsewürfel auf Pumpernickel. Diese Art von Plastikspießen.Luis hat sie mir zur Aufbewahrung gegeben. Vor ein paar Tagen waren wir irgendwo, wo es auf Käsehäppchen befestigte Oliven und Käsewürfel auf Pumpernickel gab. Luis war dabei und ein paar andere Kinder auch, und danach fuhren wir heim und nahmen Rudi im Auto mit, Luis’ Freund, der Sohn meines alten Freundes Bruno.Plötzlich gab es Geschrei auf der Rückbank und Getobe, und im Rückspiegel konnte man sehen, wie Luis und Rudi mit kleinen Plastikspießen aufeinander einstachen.»Seid ihr zu retten?!«, brüllte ich. »Ihr werdet euch die Augen verletzen!“»Aber er hat…!«, brüllte Luis.»Aber er hat…!«, schrie Rudi.»Nein, er hat…!«, kreischte Luis.»Nein, er hat…!«, keifte Rudi.Es stellte sich heraus, dass jeder der beiden ein paar Plastikspieße eingesteckt hatte. Dass sie dann zu tauschen begonnen hatten. Dass sich zunächst einer vom anderen übervorteilt gefühlt hatte, darauf dann der andere vom einen. Ich musste anhalten, damit Paola und ich das entwirren und für eine gerechte Verteilung von Plastikspießen sorgen konnten.Als wir zu Hause ankamen, übergab mir Luis drei Plastikspieße zur Aufbewahrung. Ich solle bitte gut aufpassen und sie ihm nachher wiedergeben. Er machte ein Gesicht, als überreiche er mir seltene und überaus kostbare Juwelen. Ich steckte die Spieße in die Jackentasche.Vor ein paar Tagen besuchte ich Bruno, meinen alten Freund. Wir tranken zusammen gemütlich Kaffee, die Kinder spielten im Garten unter dem Kastanienbaum, Nachbarskinder waren dabei, insgesamt zwei Buben und drei Mädchen. Plötzlich: Geschrei, das kein Ende mehr nahm. Wir sahen nach.Die Buben schlugen mit Fäusten auf die Mädchen ein, die Mädchen wehrten sich mit Gartenharken, ein Blutbad bahnte sich an. Worum es ging? Das war kaum zu klären. Es hatte etwas mit Laubhaufen zu tun, in denen Kastanien lagen, welche die Kinder in Töpfe sortierten. Aber es hatte ursprünglich zwei Laub-Kastanien-Haufen gegeben, dann hatten sich die Mädchen am Haufen der Buben vergriffen, die hatten aus Wut beide Haufen zusammengeharkt – so etwa. Bruno und ich trennten die Parteien, versuchten ein klärendes Gespräch, da raste plötzlich der Rudi auf seine kleine Schwester zu, die Schwester schaltete eine unglaubliche Schrei-Sirene ein, Rudi zog sie, so fest er konnte, an den Haaren, der Schrei der Schwester zersägte nun fast den Kastanienbaum, Bruno eilte auf Rudi zu, Rudi verschwand unter Johannisbeersträuchern, Bruno walzte brüllend hinter ihm her, Rudi schoss ins Haus und verbarrikadierte sich in seinem Zimmer.So kann jeder Sonntagnachmittag im Inferno enden, wenn man Kinder hat, liebe, süße, kleine Kinder.Und das Inferno lauert überall.Es lauert im Sportgeschäft, wo du dich nach neuen Joggingschuhen erkundigen willst, aber nicht mit dem Verkäufer reden kannst, weil Luis wegen eines neuen Fußballs quengelt. Da bekommst du später im Auto einen Brüllanfall.Es lauert in der Konditorei einer Kleinstadt, in der mein Freund Paul und seine Familie die Oma besuchten und wo die Kinder in der Konditorei sehr süße Marzipanschweine entdeckten, die sie aber nicht bekamen, weshalb sie auf der Heimfahrt so lange nach Marzipanschweinen nörgelten, bis Paul sich umdrehte und schrie, er werde aus allen Kindern Marzipanschweine machen, wenn nicht sofort!aber!sofort! Ruhe herrsche.Es lauert schon gleich nach dem Aufstehen auf dich, wenn Luis sich weigert, einen Pullover anzuziehen, obwohl es nahezu Frost hat draußen. Aber Luis sagt, es scheine doch die Sonne. Aber sie sei nicht warm, sagst du. Aber alle Pullover seien hässlich, sagt Luis. Aber sie seien warm, sagst du.Aber!, sagt Luis.Aber!, sagst du.So geht das Tag für Tag. Und vor mir liegen diese Plastikspieße, die Luis fast wichtiger als das Leben waren und auf die ich bittebittebitte gut aufpassen möge.Er hat nie wieder nach ihnen gefragt.