Das Beste aus meinem Leben

Ich weiß nicht: Liegt es daran, dass ihr Vater so ein ängstlicher Mensch ist, oder ist es bloß irgendwie altersbedingt, oder unternehmen wir einfach die falschen Dinge mit ihr – jedenfalls hat die kleine Sophie dauernd Angst. Beziehungsweise: Sie sagt, dass sie Angst habe.

Wir wollen also mit ihr die Münchner Residenz besichtigen, stehen vor dem großen Tor am Max-Joseph-Platz, da ruft Sophie, sie habe Angst, Angst habe sie – und will nicht hinein.

Oder wir sind im Zoo, betreten das Affenhaus und gehen zu den Schimpansen: Da hat sie auch Angst und will gleich wieder raus.

Meistgelesen diese Woche:

Im vergangenen Fasching tauchte der Luis plötzlich mit einer uralten Genscher-Maske auf, die wir noch im Keller herumliegen hatten. Sophie schrie: Angst, Angst, Angst!
Paola nahm Luis die Maske ab, zeigte sie Sophie und sagte: »Aber, Sophie, schau mal, die ist nur aus Plastik!«
»Plastik«, sage ich. »Sie weiß doch gar nicht, was Plastik ist.«
»Deswegen zeige ich es ihr gerade«, sagt Paola scharf, schaut mich kurz böse an und hält Sophie wieder die Maske hin.
»Angst«, sagt Sophie. »Ich habe Angst.«
»Plastik«, sagt Paola. »Nur Plastik. Und nichts dahinter.« Sie zeigt Sophie die Maske von hinten.
Luis kommt mit einem großen Plastikschwert aus seinem Zimmer, zeigt es Sophie und sagt: »Schau mal, Sophie, das ist auch nur Plastik.«
Ich halte Sophie eine Einkaufstasche hin und sagte: »Plastik, Sophie, nur Plastik…«
Das Kind beruhigte sich. Aber interessant: Was sich ihr nun eingeprägt hat, ist nicht etwa, dass Plastik ein totes Material ist, aus dem die verschiedensten Dinge gefertigt werden können, Masken, Schwerter, Tüten. Sondern sie denkt, »Plastik« sei quasi der Ausdruck für einen Zustand von Angstfreiheit, oder besser gesagt: Plastik ist etwas, vor dem man keine Angst haben muss. Eine Metapher. Nichts Konkretes.

Daran sind wir aber auch selbst schuld.
Denn wir haben Scherz mit Sophie getrieben.
Vor der Residenz in München beruhigen wir sie, dabei auf das Schloss weisend: »Keine Angst, Sophie, es ist nur aus Plastik.«
Und vor dem Schimpansen-Gehege im Affenhaus sagen wir: »Plastik, Sophie, die sind nur aus Plastik.«
Es wirkt. Sie beruhigt sich. Wir können die Residenz besuchen und die Affen, und nächstes Jahr können wir mit ihr vielleicht sogar auf eine Faschingsparty gehen.
Aber ein bisschen bescheuert kommt man sich schon vor. Kann auch sein, dass wir einen Irrweg gegangen sind. Wir hätten ihr das anders erklären müssen. Diese Scherze vor der Residenz und im Zoo… Ich muss an meinen Vater denken, der mich nie ernst nahm, wenn ich mich als Kind vor etwas fürchtete; er machte sich nur lustig darüber.

Und wir machen jetzt diese blöden Plastikwitze.
Neulich hat Sophie mit einer alten Gardine gespielt, hat sie sich über den Kopf gezogen und gerufen: »Ich ein Gespenst! Huuuuh, ich ein Gespenst..!« Ich bin vor ihr weggelaufen durch die ganze Wohnung und habe gerufen, ich hätte solche Angst, so schreckliche Angst hätte ich. Und habe mich dann hinter dem Sofa versteckt.
Dann wurde es ganz still.

Bis Sophie plötzlich neben mir stand, hinter dem Sofa, ihre Gardine anhob, mich ansah und sagte: »Ich bin doch nur aus Plastik!«

Illustration: Dirk Schmidt