Das Beste aus meinem Leben

Ich gehe an einem Café vorbei, nachmittags um fünf. Hinter den großen Fenstern des Cafés sitzt ein junger Mann vor einem Cappuccino und liest in einem Buch. An einem anderen Tisch sitzt ein Paar mittleren Alters sich gegenüber. Der Kellner ist zu sehen, wie er am Tresen lehnt. Er hat gerade nichts zu tun, denn ansonsten ist das Café leer. Dösend liegt ein Weimaraner Hund unter einem der Tische.

Wir lesen die Gedanken aller Anwesenden.
Ich: Gott, so müsste man mal wieder dasitzen können, wie der junge Kerl da… Lesen! Im Café! »Muße« nennt man das. Ich kenne das Wort ja kaum noch. Morgens vor dem Büro die Kleine in die Kindergruppe, dann an den Schreibtisch, später den Luis vom Fußball holen, abends pünktlich zum Essen daheim sein, weil wir im Erziehungsprogramm gerade »Pünktlichkeit« als Zentralpunkt haben. Abends um halb zehn sinkt einem schon das Buch in den Schoß, weil man so müde ist. Herrje! Sitzen und lesen! Tagsüber! Und das Leben vor sich haben!

Der junge Mann: Jetzt sitze ich hier schon wieder im Café und lese! Allein. Ich hätte nie in diese große Stadt gehen sollen. An der Uni bist du immer nur eine Nummer, allein abends irgendwohin zu gehen deprimiert mich. Ich lerne einfach niemanden kennen hier. Und was wird nach dem Examen sein? Der Mann, der da draußen vorbeigeht, eilig, geschäftig, mitten im Leben – wie ich ihn beneide! Ob ich es je so weit schaffe? Einen Platz im Leben zu haben?

Meistgelesen diese Woche:

Der Hund: Was ist aus mir geworden? Ein Caféhund… Noch dazu in einem Kaffeehaus, in dem es nur kleine, vegetarische Speisen gibt. Einer meiner Brüder wohnt auf dem Land, in einem alten Bauernhaus, ein anderer gehört sogar einem Bratwurstfabrikanten persönlich – warum nicht ich? Ich! Schnüffele hier an Tofu-Sandwiches. Und dann pisst mir wieder die Promenadenmischung von nebenan vor die Bude, und ich komm nicht an sie ran, durch die Glasscheibe. Warte nur auf den Sommer, Kanaille, wenn die Stühle wieder auf der Straße stehen…

Das Paar. Sie: Nun haben wir schon mal Zeit, nachmittags miteinander ins Café zu gehen, und er interessiert sich gar nicht für mich. Dabei habe ich seine Mutter gebeten, auf die Kinder aufzupassen, damit wir… Er würde nie auf so eine Idee kommen, wenn ich nicht… Ich weiß gar nicht, ob er mich noch liebt. Manchmal beneide ich ihn: dass er so ohne jedes Schuldgefühl um sich selbst kreist. Aber wenn ich ihm das jetzt sage, ist er wieder wütend, und der ganze Abend ist dahin – und wir haben doch so wenig Zeit für uns.

Er: Ich hätte ihr sagen müssen, dass ich eigentlich keine Zeit habe. Morgen früh haben wir das Meeting bei Sagemeister und Schlabberdieck, und ich bin kein bisschen vorbereitet. Aber wenn ich ihr gesagt hätte, dass es nicht geht – Gott!, wie wütend sie geworden wäre, und wir hätten Stress ohne Ende. Also sitze ich hier: weil ich keinen Stress will. Damit sie zufrieden ist. Manchmal beneide ich sie um ihre Sorglosigkeit, sie hat ja keine Ahnung, was ich…

Sie: Wie er vor sich hinstarrt! Also, ich sag’s ihm jetzt doch. Sonst platze ich… So geht’s einfach nicht!

Der Kellner: Wo bleibt denn bloß die Moni, es ist schon fünf! Ich hab überall kassiert, wie es mich ankotzt, dieses »Wir haben Personalwechsel, dürfte ich…«. Wie die Leute dann gucken, so angeekelt, als ob sie selbst tagelang durcharbeiten würden! Und jetzt kommt die Moni nicht, und ich muss dann noch mit der Töle der Chefin pinkeln gehen, äh-gitt. Wie sie da herumliegt, Mistvieh!, dafür kriegt es nachher im Park einen Tritt. Jetzt mach ich mir selbst einen Cappuccino, ist mir doch egal, wenn die blöde Tucke immer zu spät…

Die Cappuccino-Tasse: Warum nimmt er jetzt schon wieder mich? Hier stehen fünfzig Tassen, und immer nimmt er mich! Gibt es denn keine Gerechtigkeit, ich komme gerade aus der Spülmaschine, und dann trinkt er den Kaffee auch noch selbst, obwohl es die Chefin verboten hat, äh, wie mich seine Lippen ekeln, kommt Moni heute nicht um fünf?

Die Untertasse: Ah, die Tasse von heute morgen! Ich liebe sie. Ich erkenne sie an einer kleinen Delle am unteren Rand, unverwechselbar. Wie schön, wenn sie auf mir abgestellt wird; ich begrüße sie mit so einem speziellen leichten Klirren, indem ich den Löffel hüpfen lasse. Und manchmal schimpft sie leise vor sich hin, sie ist nicht gerne eine Tasse und mag den heißen Milchschaum nicht: süß, dies Gemaule! Ein reizend-trübes Tässchen… Ging nicht gerade übrigens dieser Schriftsteller draußen vorbei? Das ist auch so einer…

Illustration: Dirk Schmidt