In zwei führenden insektenkundlichen Fachorganen (erstens Behavioural Ecology and Sociobiology, zweitens der Süddeutschen Zeitung) wurde kürzlich von einer sensationellen Entdeckung berichtet: Es gibt faule Ameisen. Ich hatte natürlich keinen großen Bock, das zu lesen, aber weil mich das Thema … Also, es interessierte mich irgendwie, und deshalb ließ ich an dem Tag den Rest der Zeitung weg und zog mir bloß diesen Artikel rein, der ja immerhin selbst das kleine bisschen, das unsereiner von Ameisen bislang zu wissen glaubte, wegfegte wie der Sturm einen Haufen Herbstblätter.
Die Ameise: faul? Zu den größten Freuden das avancierten Müßiggängers, sobald er sich mal – eigentlich auf dem Sofa dem Studium des Verhaltens von Staub im Sonnenlicht oder der detaillierten Anschauung der Innenseite seiner Augenlider hingegeben – zu einem Spaziergang aufgerafft hat, gehört doch, auf einer Bank im Wald sitzend, die Betrachtung dieser Tiere: die Faszination durch ihren nachgerade unbegreiflichen Eifer und ihre unerschöpfliche Energie, dieses Gerenne, Gegrabe und Geschleppe. Ja, würden diese Tiere nicht schon Ameisen heißen, denkt der ruhig Schauende, man hätte sie unverzüglich Ameisen nennen müssen. Ihr ganzes Verhalten ist ameisenhaft.
Doch nun haben eben zwei Fachleute der Universität Arizona fünf Ameisenkolonien einer näheren Analyse unterzogen, ja, sie haben einzelne Tiere markiert und mit Spezialkameras beobachtet. Ist es nicht erstaunlich, wozu Menschen willens und in der Lage sind, statt einfach, auf der Chaiselongue lümmelnd, die zuständigen Fachblätter zu lesen? Jedenfalls ergab sich aus dieser mühevollen Tätigkeit die Erkenntnis, dass nur 2,6 Prozent der beobachteten Ameisen unaufhörlich schufteten, während mehr als 25 Prozent den lieben langen Tag nicht das Geringste taten und sogar fast 75 Prozent zumindest die Hälfte der Zeit den Großen Krabbelgott einen guten Mann sein ließen.
Und anscheinend gibt es Hinweise, dass es sich in Bienenvölkern, Wespennestern und Termitenhügeln nicht viel anders verhält: Überall rackern ein paar, die es nie kapieren werden, während der Rest die Flügel über dem Bauch faltet und die Gaumensegel in den Atemwind hängt. (Falls diese Tiere so was haben, ein Gaumensegel, meine ich.) Die Forscher in Arizona schreiben dazu: »Unsere Arbeit betont die Bedeutung von Inaktivität als Verhaltenszustand und verdeutlicht, wie nötig weitere Studien sind.« Weitere Studien?
Ooooch neee! Echt jetzt?
Es war doch gerade ganz gemütlich hier. Reicht es nicht, wenn man den zitierten Satz einfach ein wenig umformuliert, also umdreht? »Unsere Inaktivität betont die Bedeutung von Arbeit als Verhaltenszustand …« Denn wer, wie unsere lieben Wissenschaftler drüben in Amerika, darüber nachgrübelt, welchen biologischen und evolutionären Sinn also die Faulheit haben könnte, dem sage ich hier von meinem Bürosofa aus: Erst die Existenz der Faulheit, ihre offenkundige Sichtbarkeit, macht doch dem Fleißigen seinen Fleiß bewusst. Wären alle arbeitsam, ahnte der Strebende nichts von sich selbst, er wäre nichts Besonderes – das aber will er doch sein! Er will jammern und klagen. Er will rufen können: Wenn ich nicht wäre!
So ist es bei den Insekten, so ist es auch beim Menschen. Schon ein kurzer Blick in die Zeitungen der vergangenen Woche lehrt, welch’ eklatante Faulpelze gerade wieder das Glück der Fleißigen ermöglichen: Beim Playboy sind sie jetzt schon zu faul, Mädchen für ein paar Fotos auszuziehen. Die Linksfraktion im Bundestag hat eine Doppelspitze gewählt, weil es einer Person echt zu viel Arbeit war. Die Bedeutung des Internethandels steigt, weil die Leute zu bequem sind, für einen Einkauf die Bude zu verlassen. Die Wahlbeteiligung sinkt, weil man das nicht online erledigen kann, und … Ach, reicht jetzt, oder?
Illustration: Dirk Schmidt