Kalte Dusche für die Demokratie

Obwohl beileibe kein Unterstützer der AfD, findet unser Kolumnist die jüngsten Erfolge der Partei gut. Warum bloß?

Herrje, ich finde, uns Demokraten und Europäern fehlt es zur Zeit an Feuer, Begeisterung, Enthusiasmus für unsere Sache! Das muss sich ändern.  Zuerst möchte ich meiner Freude über die letzten Wahlergebnisse Ausdruck verleihen. Ich halte es für gut, dass die AfD so erfolgreich abgeschnitten hat! Nicht dass wir uns missverstehen: Ich verabscheue die Partei en gros und en détail. Aber es ist nun mal so, dass ungefähr zwanzig Prozent der Bevölkerung in Deutschland zum Autoritären und zum Rassismus neigen, das konnte man seit langer Zeit immer wieder soziologischen Studien entnehmen. Bloß: Wer liest soziologische Studien? So ein Wahlergebnis jedoch entgeht keinem. Es macht sichtbar, dass gewisse Bedrohungen unserer Lebensform nie aufhören – und das ist das Gute: Man muss der Wahrheit ins Gesicht sehen. Selbsttäuschung wird unmöglich.

Resultate wie das der AfD muss der liberale Demokrat also wie eine schöne kalte Dusche am Morgen wahrnehmen: Im ersten Moment ist das ein Schock. Danach geht es wieder frisch ans Werk.

In der taz habe ich gelesen, Angela Merkel habe »ein Jahrzehnt lang perfekt die Sehnsucht der Gesellschaft nach Politik ohne Streit erfüllt und eine leicht sedierte Form von Demokratie perfektioniert«. Fast jedes politische Geschehen, auch in den schlimmsten Krisen, war alternativlos. Es wurde nicht wirklich diskutiert, sondern musste anscheinend passieren. So haben wir uns an einen Dämmer gewöhnt, aus dem wir nun emporschrecken und uns nass gescheitelten Schwadroneuren gegenübersehen, die von Zeitenwende reden.

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Na, wollen wir mal sehen!

Das Schöne an der Demokratie ist ja, dass sie im Streit erst richtig gut wird. Wenn nun mal ziemlich viele Leute der Ansicht sind, mit der Flüchtlingspolitik in Deutschland stimme etwas nicht, dann muss das seinen Ausdruck finden, und findet es den sonst nirgends, dann meinetwegen in der AfD. (Und natürlich in der CSU, pardon.) So ist das in der Demokratie. Alles findet seinen Ausdruck, und über alles wird gestritten, das ist ein Vorteil. Als ich 16 war, beharkte man sich im ganzen Land wegen der Ostpolitik. Tagaus, tagein warfen sich die Leute dieses und jenes an die Köpfe, es war schlimm. Und gut so.

Ich habe dann mal einen Blick in den Entwurf des Parteiprogramms der AfD geworfen, sie hat ja bisher keines. Diese Lektüre kann man nur empfehlen. Die Arbeitslosen in Sachsen-Anhalt, die jetzt diese Partei gewählt haben, werden staunen, dass sie nach Ansicht der von ihnen Gewählten in Zukunft privat für sich vorzusorgen haben. Aber das nur nebenbei. Ich las, die Europäische Union solle quasi aufgelöst werden, umgebaut zu einer »Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten in ihrem ursprünglichen Sinne«.

Das ist wahrhaft reaktionär!

Denn es gibt keine größere Errungenschaft unserer Zeit als die EU. Wir verdanken ihr alles, Frieden, Wohlstand, Freiheit. Dies war ein Kontinent, auf dem jahrhundertelang die größten Blutbäder stattfanden, die Menschen flohen in alle Welt. Warum bedroht Wladimir Putin die EU? Weil ihr Erfolg seine erfolglose, menschenverachtende, autoritäre Politik in Frage stellt. Warum fliehen so viele Menschen hierher? Weil ihnen die EU in der Welt als der beste Ort erscheint. Wenn diese Veränderung eines ganzen Erdteils kein politisches Wunder ist – was dann?

Kein Wunder ist: dass ein so gigantisches Vorhaben gefährdet ist, sich Rückschlägen gegenübersieht, in Frage gestellt wird, wie jetzt durch die Le Pens, Kaczynskis, Orbáns und ihre Fähnchenschwenker von der AfD. Das ist selbstverständlich. In solchen Zeiten muss man streiten, nach Lösungen suchen, verhandeln, ja, Verhandeln ist überhaupt das Beste, was es gibt, Europa ist der Kontinent des Verhandelns, dafür kann man sich begeistern, und das ist es, was wir, die wir die richtigen Ziele haben, jetzt brauchen: Begeisterung!

Illustration: Dirk Schmidt