Lasst die Jungen endlich mitreden!

Bei den EU-Wahlen haben unter 18-Jährige wieder einmal keine Stimme – obwohl sie es sind, die die heutigen Entscheidungen einmal ausbaden werden. Unserem 21-jährigen Autor platzt darüber der Kragen.

Junge Menschen bei einer Demonstration in Sydney.

Foto: dpa

Stellen Sie sich vor, Sie studieren oder haben eine Berufsausbildung abgeschlossen, Sie arbeiten, zahlen Miete und Steuern, Renten- und Krankenversicherung, vielleicht haben Sie sogar Kinder oder pflegen Angehörige – und trotzdem sind Sie nicht an politischen Entscheidungen beteiligt. Klingt nach Autokratie, ist aber die Realität meiner Generation. Denn wenn die Europäische Union am 26. Mai an die Wahlurnen bittet, wird eine Bevölkerungsgruppe wieder einmal nicht mitreden dürfen: Junge Menschen. Wer heute 17 ist, darf nächsten Sonntag nicht zur Wahl. Er wird im Alter von 22 Jahren zum ersten Mal auf EU-Ebene mitbestimmen dürfen.

Das betrifft ausgerechnet jene Generation, die von allen heute getroffenen Entscheidungen die Auswirkungen am stärksten spüren wird. Laut Bundesverfassungsgericht garantiert »der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl das Recht aller Staatsbürger, zu wählen« – weshalb zählen dann junge Stimmen nicht? Sind Menschen unter 18 keine Staatsbürger*innen? Es ist schon merkwürdig: Ab dem 13. Lebensjahr darf man arbeiten, mit 14 wird man strafmündig, mit 15 endet die Schulpflicht, man kann Sozialleistungen beantragen und Mofa fahren, mit 16 darf man Bier und Wein trinken, einen Jugendjagdschein oder eine Segelfluglizenz erwerben, in Parteien eintreten, heiraten oder ein Testament schreiben, mit 17 Auto fahren oder zur Bundeswehr gehen. Nur wählen, das geht erst mit 18 – dann darf aber selbst im betrunkenen Zustand gewählt werden. Anders gesagt: Wir trauen betrunkenen Erwachsenen mehr zu, als jungen Menschen.

Das natürlich wirkende Alter der Volljährigkeit ist eine juristische, von Menschen festgelegte Grenze – und kein Naturgesetz. Zum Glück: Denn Gesellschaften verändern sich, und entsprechend werden auch gesetzliche Altersgrenzen regelmäßig angepasst. Bis 1975 wurde man in der Bundesrepublik erst mit 21 volljährig und bis 1972 durfte erst ab einem Alter von 21 Jahren gewählt werden – übrigens: beide Änderungen hatten die Jugendproteste der Sechziger ausgelöst. Aber dort, wo es um die Verteilung von Einfluss geht, brodeln Alteingesessene vor Entrüstung und werfen mit Steinzeit-Argumenten um sich. Sie sagen, die jungen Generationen seien unpolitisch und nicht daran interessiert, mitzureden. Nun: Es ist zumindest eigen, vermeintlichem Desinteresse durch den Ausschluss aus politischen Debatten entgegenwirken zu wollen. Vor allem ist aber die Grundannahme falsch, denn junge Menschen interessieren sich immer mehr für Politik! Nicht nur Untersuchungen zeigen das längst: Seit Monaten rufen die jungen Generationen uns jeden Freitag ihre Forderungen lautstark zu, wenn sie die Straßen füllen und für ihre Überzeugungen demonstrieren. Unüberhörbar bestimmen sie damit die Inhalte der Nachrichtensendungen und die Themen am Esstisch, sie lenken die Diskussionen im Schulunterricht, im Bundestag und in den Konzernen. Sie verschaffen sich Gehör - und das, obwohl sie nicht gefragt werden.

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Derweil schwelgen die Gegner*innen eines Wahlrechts für junge Menschen in Zukunftsvergessenheit und sagen, diese würden ein Wahlrecht so oder so nicht nutzen. Dabei gibt es Altersgruppen, die seltener zur Urne gehen, denen das Recht zu wählen trotzdem nicht aberkannt wird. Sie sagen, junge Menschen seien uninformiert, und ich frage mich: Seit wann ist politische Expertise ein Kriterium, um wahlberechtigt zu sein – oder kennen Sie die Namen der im EU-Parlament vertretenen Parteien? Sie sagen, junge Menschen seien unreif oder von ihren Eltern beeinflussbar. Im Gegenteil: Sie diskutieren und streiten mit ihren Eltern, sie erklären ihnen Dinge und leisten dabei (das hat eine Forschungsgruppe der North Carolina State University kürzlich für die USA bestätigt) ziemlich gute Überzeugungsarbeit. Sie sagen, junge Menschen nähmen die Wahl nicht ernst. Das ist angesichts der niederschmetternden deutschen Wahlbeteiligung bei den EU-Parlamentswahlen der letzten zwanzig Jahre von – festhalten! – weniger als 50% eine waghalsige These, die nicht zuletzt die Frage aufwirft, wie ernst die Erwachsenen es eigentlich mit ihrem Wahlrecht meinen. Sie sagen, man solle doch dankbar sein, bei Kommunalwahlen mitreden zu dürfen, und damit haben sie bereits alles gesagt, denn was bedeutet es, wenn junge Menschen auf Kommunalebene wählen dürfen, aber in Europa kein Wahlrecht innehaben? Sie sagen, junge Menschen würden eher unseriöse Spaßparteien wählen, und ich frage mich: Betreiben die Regierungsparteien nicht auch Satire?

Letztendlich sind all diese Einwände gleichermaßen unpräzise wie belanglos, denn unabhängig davon, ob sie stimmen oder nicht (nein, tun sie nicht), vertuschen sie eine viel grundsätzlichere Frage, die sich weder durch politische Vorlieben, noch durch politisches Wissen beantworten lässt: Wer soll daran mitentscheiden dürfen, wie die Welt von morgen aussehen wird?

Es ist kein Zufall, dass junge Menschen durch das gegenwärtige Wahlrecht marginalisiert werden. Denn die wütenden Rufe der jungen Demonstrierenden auf der Straße werden nun mal problemlos von dreifachverglasten Bürofenstern gedämmt, Stimmzettel hingegen nicht. Dass die Machthabenden auf diese Weise an ihrem Einfluss festhalten, ist ebensowenig neu: So war es mit dem Frauenwahlrecht, so war es bis vor kurzem mit dem Wahlrecht betreuter Menschen und so ist es weiterhin bei denjenigen, die zwar teils jahrzehntelang in Europa leben und arbeiten, aber keine EU-Staatsangehörigen sind und deswegen von der Wahl ausgeschlossen werden. Wählen ist zwar auf dem Papier ein Grundrecht, bleibt in der Realität jedoch ein Privileg.

Die Stimmen junger Menschen empfindet nur als Bedrohung, wer junge Generationen nicht ernstnehmen will. Europa ist gerade jetzt, da antieuropäische und neovölkische Kräfte im EU-Parlament stärker zu werden drohen, auf die Stimmen der Jungen angewiesen. Denn diese sind trotz ihrer berechtigten Wut in Anbetracht des aktuellen Zustands der EU weiterhin mehrheitlich pro-europäisch – noch. Immerhin: Die Jungen von heute sind die Wähler*innen von morgen. Ich werde nun, im Alter von 21 Jahren, zum ersten Mal wählen, und ich werde nicht diejenigen unterstützen, die die Stimmen junger Menschen stumm schalten wollen.