Die früheste Erinnerung an Lisa riecht nach Magensaft und Buttersäure – eine Mischung aus nassem Hund und ranziger Kokosmakrone. Lisa saß zitternd auf der abgewetzten Rückbank unseres Familienkombis und kotzte sich die Seele aus dem moppeligen Welpenleib. Sie reiherte in einen leeren Eierkarton, den wir in weiser Voraussicht (oder schlampiger Nachlässigkeit) irgendwann mal zwischen all den verstaubten Kassettenhüllen und zerknäulten Fußmatten unter der Rückbank zurückgelassen hatten.
Eben hatten wir Lisa von jenem Bauernhof abgeholt, auf dem sie zwei Monate vorher geboren worden war. Sie war die Kleinste eines achtköpfigen Wurfes, schlappohrig und als einzige ganz schwarz. Sogar über ihre Zunge zogen sich dunkle Pigmentflecke. Die Töchter des Bauern hatten sie Julia getauft, aber Lisa gefiel uns besser. So hieß eine Freundin der Familie, die früher oft auf uns Kinder aufgepasst hatte, wenn Mama und Papa ins Konzert gegangen waren. Meine kleine, damals fünfjährige Schwester jubilierte, während wir anderen einfach nur hofften, den erbarmungswürdig würgenden Hund lebendig nach Hause zu bekommen. Das sei jetzt ihr neues Geschwisterchen, quakte sie vergnügt lispelnd, woraufhin meine Mutters streng erwiderte, dass das ein Hund sei und kein Mensch.
Überhaupt hatte meine Mutter der Anschaffung von Lisa skeptisch gegenübergestanden. Wegen ihrer heftigen Tierhaarallergie – und wegen Bodo: Mama erzählte bei Familienfeiern immer die Geschichte des liebestollen Nachbarhundes, der in der hessischen Kleinstadtidylle ihrer Kindheit sein frivoles Unwesen trieb und sich einmal wild entschlossen mit ihrer Wade gepaart hatte. Das hatte sie im Alter von acht Jahren offenbar ziemlich verstört. Irgendwie konnten wir Kinder sie dann aber doch überzeugen, und so tapste Lisa sabbernd – und kotzend – in unser Familienleben.
Lisas Labrador-Mutter war wegen ihrer Gutmütigkeit als Jagdhund ausgemustert und zum Hofhund umfunktioniert worden, vom Vater war nicht viel bekannt, außer, dass es ein Kleiner Münsterländer war. Kleine Münsterländer sind aufgeweckte Wildjäger mit unbändiger Spielfreude. Auch seine Tochter war ein pfiffiger Welpe, oft übermütig, liebte Salatgurken, Käserinde und die salzige Lake, in der Mozzarella-Bällchen schwimmen. Wenn sie mit dem Schwanz wedelte, rotierte ihr ganzer Unterkörper – so wie bei den meisten Welpen, wenn die Proportionen noch nicht ganz stimmen.
Egal, ob Lisa Schuhe ankaute, heimlich auf der warmen, aber verbotenen Ofenbank schlief oder in unserer Abwesenheit eine 16er-Packung Krapfen mit Marillenmarmelade verspeiste, worüber wir Kinder uns natürlich heimlich freuten – meine Mutter war streng mit ihr und predigte, man solle zu einem Tier keine zu enge Bindung aufbauen. Nach einer Behandlung in Mamas Praxis – sie war Ärztin – schenkte eine ältere Dame uns zum Dank ein selbstgemaltes Porträt von Lisa. Anstatt sich zu freuen, war Mama indigniert – man solle den Hund nicht so vermenschlichen. Dann brachte sie das Bild auf den Dachboden, wo es hinter vergilbten Lampenschirmen und Koffern verstaubte.
Und noch einen Grundsatz-Beschluss fasste meine Mutter: Das Tier wird gut erzogen. Wenn es schon ein Hund sein müsse, wolle sie zumindest keine kläffende Töle, die Kinder anfällt – wie Bodo damals. Eine Drittelmillion Haustiere lande jährlich in deutschen Tierheimen, mahnte sie, viele davon wegen mangelhafter Erziehung und Überforderung der Besitzer. Das werde uns nicht passieren, gelobte sie mit einem Funkeln in den Augen, als sagte sie allen pädagogisch unbegabten Herrchen und Frauchen da draußen den Kampf an.
Mama war der Ansicht: Sollte sich der Hund mal verletzen, müsse man sehen, wieviel der Tierarzt koste.
Lisa ging also zur Hundeschule. Allerdings nicht lang. Und das lag an den Nerven meiner Mutter. Die larmoyante Sentimentalität der, wie sie sagte, »Helikopter-Herrchen und Hunde-Muttis« vergällte ihr jede Sitzung. Verächtlich schnaubte sie, dass manche ihre Tiere wie Kinder behandelten – das sei eines Erwachsenen nicht würdig. Ich kam zur letzten Einheit mit und fand es eigentlich ganz interessant. Denn der Hundetrainer Joe, ein Eso-Typ mit Pailletten-Bandana und abgewetztem Filz-Poncho, gab ein paar spannende Fakten zum Besten: Hunde würden die Emotionen ihrer Besitzer visuell und akustisch erkennen, röchen Angst oder Freude anhand unseres Schweißes und spiegelten instinktiv unsere Gefühlsregungen – genauso wie Menschen untereinander. Sowohl Mensch als auch Hund seien empathischer, wenn in ihren Körpern Oxytocin, das sogenannte »Kuschelhormon«, ausgeschüttet werde. So falle es dem Gehirn leichter, soziale Signale wahrzunehmen und zu deuten. Oxytocin-Booster seien gemeinsam verbrachte Zeit, Nähe und zärtlicher Körperkontakt. Auch deshalb nähmen laut Umfragen gute zwei Drittel der deutschen Hundebesitzer ihren Vierbeiner wie ein Baby wahr, monologisierte Joe mit seinem verträumten Grinsen. Das war genug. Von da an nahm meine Mutter Lisas Erziehung selbst in die Hand.
Am Tag meiner Erstkommunion bekam unsere Katze Lotta Junge, da war Lisa gerade zwei geworden. Lotta war kurz nach Lisa bei uns eingezogen, wir hatten sie nach dem Mädchen mit dem roten Fahrrad aus Astrid Lindgrens gleichnamigem Kinderbuch benannt. Auch Lotta kam von einem Bauernhof in der Nähe. Die beiden kriegten sich anfangs ziemlich oft in die Haare, weil Lisa die misstrauische Katze so lange treudoof anstarrte, bis Lotta sich provoziert fühlte und ihrem arglosen Gegenüber einen Nasenstüber verpasste. Dann nahm sie Reißaus und Lisa setzte ihr kläffend nach. Aber wehe, wenn Mama das hörte, denn dann – und das wusste Lisa ganz genau – war der Spaß vorbei. Lisa stellte sich bei ihren Missetaten auch nicht sonderlich geschickt an. Kamen wir nach Hause und der Hund trottete uns mit hängendem Kopf und schuldbewusstem Blick entgegen, war mit einer Urin-Lache im Flur, einem angenagten Stuhlbein oder einer leergefutterten Keksdose in ihrem Körbchen zu rechnen.
Lotta bekam vier Junge. Eins davon starb gleich nach der Geburt, aber die Geschwister wuchsen schnell und kullerten bald als miauende Fellknäule durch unsere Wohnung. Nach ein paar Wochen verstieß Lotta ihren anhänglichen Nachwuchs. Auf der Suche nach Nähe und ein bisschen Muttermilch landeten die drei kleinen Katzen bei Lisa im Körbchen, die sich von da an rührend um ihre Kuckuckskatzenkinder kümmerte. Das tagelange Nuckeln muss ihr einen Hormonstoß verpasst haben, ihre Zitzen wurden immer praller. Die Katzen beschwerten sich nicht und tranken wochenlang Hundemilch. So war unser zur Seekrankheit neigender, ungestümer Welpe plötzlich erwachsen geworden.
Lisa begleitete uns überall hin. Sie rannte bei langen Wanderungen die Berge dreimal hoch und runter, hetzte vergeblich so manchem Reh hinterher, bis meine Mutter sie keuchend wieder eingeholt und zurückbeordert hatte, verschluckte mal einen allzu mutig um ihre Schnauze flatternden Spatz in der Fußgängerzone und erschreckte zwei Laufenten, die unseren Garten schneckenfrei halten sollten, zu Tode. Vor lauter Spielfreude hatte sie die armen flugunfähigen Vögel einfach umgerannt, die ihrerseits mit einem letzten Schnattern über den Jordan watschelten – der Schock war zu viel für die Entenherzen. Ging der Jagdtrieb nicht mit ihr durch, war Lisa aber sehr gut erzogen. Immerhin führte meine Mutter sie mit harter Hand. Sie war der Ansicht: Sollte sich der Hund mal verletzen, müsse man sehen, wieviel der Tierarzt koste. Das mag herzlos klingen. Aber ich glaube, meine Mutter hatte Angst, sich zu sehr auf dieses Lebewesen einzulassen. Damals hatte sie auch noch drei Kinder großzuziehen. Und die verlangten ihr einiges ab.
Nicht einmal an so einem Energiebündel wie unserem Labrador-Mischling aber ging die Zeit spurlos vorüber. Lisa wurde älter, der hyperaktive Tollpatsch auf den Fotos aus unserem Tirol-Wanderurlaub vor zehn Jahren ähnelte ihr nur noch entfernt. Weiße Haare melierten ihr matter werdendes Fell, ein kleines helles Bärtchen legte sich um ihre ergrauende Schnauze und der Zahn der Zeit nagte ihr die Muskeln von den ehemals drahtigen Beinen. Der graue Star ließ ihre Augen milchig verschwimmen, irgendwann hörte sie kaum noch. Manchmal lief sie beim Spazierengehen einfach davon, weil sie uns, obwohl wir direkt neben ihr standen, nicht mehr wahrnahm. Den tauben und blinden Hund dann wieder einzufangen war gar nicht so einfach, bemerkbar machen konnte man sich ja nicht. Aber besonders schnell war sie auch nicht mehr unterwegs.
Lisas Bestimmung war es, einfach da zu sein. Dass dieses Dasein langsam zu Ende ging, bedrückte Mama mehr als wir alle erwartet hatten.
In dieser Zeit näherte sich meine Mutter gerade ihrer Pensionierung, wir Kinder waren schon länger ausgezogen. Und je weniger Lisa sah und hörte, desto mehr schwand auf einmal die emotionale Distanz, um die sich meine Mutter so lange bemüht hatte. Zusammen durchstreiften die zwei nun den Garten, ernteten die Gurken, die Lisa so liebte und fütterten die übrigen Enten, die auch langsam grau wurden. Lisas Bestimmung war es, dabei zu sein. Da zu sein. Einfach zu sein. Und dass dieses Sein immer schneller seinem Ende entgegenging, bedrückte meine Mutter mehr als sie selbst und wir alle erwartet hatten. Es war, als hätte Mama in Lisa nach unserem Auszug eine Seelenverwandte gefunden, mit der sie etwas teilte, das wir einfach nicht verstehen konnten: die Fragen, Zweifel und Ängste des Altwerdens.
Einmal ging ich mit Mama im Ort einkaufen. Vor dem Supermarkt trafen wir eine Bekannte, die immer mit ihrem riesigen, fast 70 Kilo schweren und unerträglich miefenden Neufundländer durch den Stadtpark spaziert war. Heute war sie nicht wiederzuerkennen, ich sah sie das erste Mal ohne ihren Hund. Aramis – so hieß das gutmütige Ungetüm – sei vor zehn Tagen gestorben, erzählte sie mit zitternder Stimme. Sie habe eine Woche lang nicht hinausgehen können und noch nicht die Kraft gefunden, den Napf wegzuräumen. Meine Mutter sprach ihr gut zu und ich sah, wie sie mit ihr fühlte.
Auf dem Rückweg vom Supermarkt schwiegen wir beide und dachten an die alte Frau mit ihrem Aramis. Plötzlich blieb meine Mutter stehen und sah mich an. Lisa sei wie ihr viertes Kind, das sie nie bekommen hatte, sagte sie. So emotional kannte ich meine Mutter gar nicht. Doch sie war noch nicht fertig. Dieser alte Hund sei wie ein Kind, ihr viertes Kind, das nie sprechen lerne und irgendwann gehe, ohne richtig groß geworden zu sein, presste sie hervor. Ich war perplex, wusste nicht, was ich antworten sollte und schwieg deshalb. Wir gingen weiter, ohne etwas zu sagen. Und meine Brust zog sich zusammen. Lisa war also doch noch zu dem Geschwisterchen geworden, das meine kleine Schwester damals voll kindlichem Überschwang in unserer Mitte begrüßt hatte.
Lisa wurde immer träger, schlief irgendwann fast den ganzen Tag. Und meine Mutter wurde manchmal richtig melancholisch. Als Lisa jünger war, bekam sie nicht einmal unsere Essensreste, jetzt kochte meine Mutter für sie. Wenn der zerstreute Hund auf seine alten Tage ein neues Kunststückchen lernte – etwa, auf Kommando einmal im Kreis zu tänzeln – war meine Mutter ähnlich stolz wie damals, als wir Kinder ihr krakelige Zeichnungen mit undefinierbaren Kreaturen darauf schenkten. Ich sagte ihr, dass sie mit einem neuen Hund wieder aufblühen würde. Sie nickte dann unentschlossen und vergrub sich in ihrer freien Zeit in Hunde-Lehrbüchern. Manchmal erklärte sie mir völlig unvermittelt, dass die Nervenbahnen bei Welpen ähnlich langsam wachsen wie bei menschlichen Neugeborenen, dass 96 Prozent der deutschen Hundebesitzer ihren Hund als Familienmitglied wahrnehmen oder dass Beagle ein Fress-Gen besitzen, kein Sättigungsgefühl kennen und deshalb fett werden.
Mama fand heraus, dass Hunde gar nicht merken, wie sie altern – dafür aber zutraulicher werden, weil sie sich mit abstumpfenden Sinnen immer weniger in ihrer Lebenswelt zurechtfinden. Bei jeder gemeinsamen Mahlzeit zitierte sie Studien, als säße ich in einer kynologischen Vorlesung: Wissenschaftler hätten herausgefunden, dass Menschen und Hunde eine außergewöhnliche emotionale Verbindung auszeichne, die sonst speziesübergreifend kaum zu finden sei. Einmal – sie hatte sich wieder mal ein neues Hundebuch im Internet bestellt – rief sie mit leuchtenden Augen: Das Zauberwort sei Oxytocin! Oxytocin – aus verschwommenen Erinnerungen schälte sich in meinem Kopf Hundetrainer-Joes abwesendes Grinsen, in Gedanken hörte ich meine Mutter über die sentimentalen Teilnehmer fluchen. Wie lange das her schien!
Zu Weihnachten bekam Mama ein gerahmtes Foto von Lisa. Beim Auspacken entdeckte ich eine Träne in ihrem Augenwinkel.
Je mehr man gemeinsam erlebt habe, desto mehr Oxytocin werde in Momenten der Nähe freigesetzt, erzählte Mama jetzt unbeirrt weiter. Im Laufe eines Hundelebens wachse man also zusammen, triumphierte sie. Und schob hinterher, dass depressive Erkrankungen deshalb unter Herrchen und Frauchen von alten, kränklichen Hunden gehäuft aufträten. Gleichzeitig altere man mit einem Hund aber körperlich und kognitiv langsamer, das zeigten Studien aus Kanada, Japan und Australien. Und so ein Hund habe ja wohl einen schönen Lebensabend verdient, auch wenn er nicht mehr so fit sei, resümierte sie trotzig. Lisas Porträt von der mittlerweile verstorbenen Patientin hängt heute im Wohnzimmer. Letztes Jahr zu Weihnachten bekam Mama von meiner Schwester einen Fotodruck auf Keilrahmen, der Lisa vor einem Blumenbeet zeigt. Beim Auspacken entdeckte ich eine Träne in ihrem Augenwinkel.
Lisa ist jetzt 15, meistens müde, aber noch da. Es ist ein Abschied auf Raten. Wenn sie sich kratzen will, fällt sie manchmal fast um – die Hinterbeine schwächeln. Wenn wir bergauf gehen, muss man sie am Hinterteil vorwärtsschieben, wenn ihr die Kraft ausgeht. Morgens wechseln wir die Bettlaken in ihrem Körbchen, weil sie das Wasser nicht mehr so gut halten kann. Aber bei den kleinen Spazierrunden blüht sie wieder auf. Und kuschelt immer noch ausgiebig mit den adoptierten Katzenkindern, die schon lange keine Kinder mehr sind. Unsere Tierarztrechnungen sind ganz schön lang geworden. Aber was soll’s. Zeiten ändern sich. Und Menschen auch. Manchmal braucht es dafür nur einen kleinen kotzenden Hund.