Und dann starb er. Vor meinen Augen durschlug die Kugel seine Brust. Abgefeuert aus dem Gewehr eines Verbrechers, von dem ich schon vorher wusste, dass er sein Mörder sein würde. Ich sah seine Schultern beben wie im Fieber. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Vielleicht war es auch das Badewasser aus dem Handtuch, das auf meinem Kopf thronte wie ein Federschmuck aus feuchtem Frottee. Ich roch Blut und schmeckte die Süße des halb zerronnenen Schokoladenstückchens, das ich in der Hand nach oben geschmuggelt hatte, um es noch vor dem Schlafengehen heimlich zu essen.
Der Arzt verband ihn. Aber es war zu spät. Genauso war es auch das letzte Mal gewesen. Gestern Nachmittag nach dem Kaffee mit Oma. Und davor schon so oft, dass ich seine Tode nicht mehr zählen konnte. Ich lehnte mit dem Rücken am holzverkleideten Lautsprecher unserer alten Stereoanlage und spürte tiefe Traurigkeit, die sich in mich bohrte wie die Kugel in Winnetous Brust. Wieder einmal musste ich diesen unvergleichlichen Indianerhäuptling gehen lassen, der auf seinem schwarzen Hengst durch mein Ohr in mein Herz geritten war. Die Kassette knarzte und knackte, dann war es vorbei.
Ein Erwachsenwerden später fand ich beim Aufräumen auf dem Dachboden die Holzkiste wieder, in der ich vor Jahren meine alten Kassetten eingemottet hatte. Im Abendlicht sah ich die Gesichter meiner Kindheitshelden auf den vergilbten Titelbildern. Das Klappern der Hüllen versetzte mich zurück in eine Zeit, in der ich nichts von der Welt kannte als die immergleichen Abenteuergeschichten. In der ich dieselben paar Kassetten wochenlang rauf- und runterhörte und dabei alles fühlte, was ich mir vorstellen konnte. Alles bis auf den Überdruss, der mich heute verfolgt, wenn ich abwesend durch Streaming-Mediatheken scrolle.
Mit einem Wisch kann ich mehr Geschichten erleben, als ich mir früher in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hätte. Und mehr als ich heute ertrage. Auf Spotify gibt es jede Winnetou-Episode in unzähligen Ausführungen. Als ich die App auf meinem ersten Smartphone installierte, suchte ich zuallererst nach meinem Idol. Ich sah die ersten hundert Suchergebnisse über den Bildschirm wandern, da verging mir die Lust. Früher gab es nur einen Winnetou, den echten eben. Heute spricht er mit hundert verschiedenen Stimmen, die Geschichten sind umgeschrieben, die Titelmelodien generisch und die Geräusche kommen aus schlechten Soundkonserven. Wenn Winnetou irgendwann in mir starb, dann war es, als er mir auf Spotify begegnete. Nicht die Kugel des Banditen hat ihn erledigt – sondern seine unzähligen schlechten Kopien, die mich heute auf Streaming-Portalen heimsuchen.
An diesem Abend auf dem Dachboden starrte er vorwurfsvoll aus der Kassettenkiste, als nähme er mir übel, dass ich nie Lebewohl gesagt hatte. Ich sah mich wieder mit zehn Jahren im Wohnzimmer sitzen. In meiner Brust zog sich etwas zusammen. Warum reichte mir damals eine Handvoll Kassetten, um glücklich zu sein? Die Geschichten meiner Kindheit verdienten einen würdigen Abschied. Und dafür musste ich verstehen, wo ihr Zauber hin war.
Meine Suche beginnt dort, wo alles angefangen hat. Als meiner Schwester und mir mit sechs Jahren die Lust auf Gutenacht-Geschichten von Mama und Papa verging, bekamen wir ein altes Kofferradio, vor dem wir jeden Abend saßen, um den »Ohrenbär« des rbb zu hören. Dort gab es vor dem Schlafengehen kleine Fortsetzungsgeschichten für Kinder. Noch heute muss ich daran denken, wie meine Schwester und ich das alte Radio anstarrten, wenn ich das federleichte Peter-Motiv aus »Peter und der Wolf« höre, das war damals das Intro. Ich rechne damit, dass die Sendung schon lange eingestellt wurde – und finde zu meinem Erstaunen die Website des »Ohrenbär« im Internet. Als ich mich durch die Seite klicke, stoße ich auf eine Folge über ein Mädchen namens Ida, das ihrer Tante dabei hilft, von einem Lastwagen voller Erinnerungen Abschied zu nehmen. Das passt wie die Kassette in den Rekorder. Ich schreibe den Autor an.
»Hörspiele dringen tief in Kinderseelen ein. Erwachsene hören nebenbei, Kindern hängen Geschichten tagelang nach«
Schriftsteller Guido Gin Koster
Zwei Wochen später treffe ich Guido Gin Koster in einem digitalen Konferenzraum. Er sitzt vor einem hohen Bücherregal und entschuldigt sich für die Tonqualität seines uralten Computers. Hörspiele schreibe er schon länger nicht mehr, schickt er voraus, die Künstlerfreiheit schwinde zusehends: »Geschichten werden kürzer und die Sprechrollen immer weniger, um zu sparen. Streaming-Dienste verlangen künstliche Spannungsbögen in immer kürzeren Abständen: Alle paar Minuten muss eine Leiche her, damit die Hörer dranbleiben. Da mache ich nicht mehr mit.«
Koster erzählt mir, dass deutsche Kinderhörspiele früher ein Refugium kreativer Köpfe waren, die unter der Stasi-Zensur litten: »Viele Redakteure aus dem Osten waren geschasste Theaterdramaturgen, die der DDR-Führung ideologisch nicht gepasst hatten. Da hieß es dann: »Ab ins Hörspiel«. Die größte Degradierung war: »Ab ins Kinderhörspiel«. So entstanden wunderbare Redaktionen mit Hörspielautoren, die einen enormen Freiheitsdrang hatten.«
Es überrasche ihn nicht, dass ich mich so intensiv an Hörspiele meiner Kindheit erinnere. Das geschehe aus demselben Grund, warum es so heikel sei, gute Geschichten für Kinder überhaupt erst zu schreiben: »Hörspiele dringen tief in Kinderseelen ein. Erwachsene hören nebenbei, Kindern hängen Geschichten tagelang nach. Kinderhörspiele haben mich immer nervöser gemacht als Geschichten für Erwachsene.«
»In digitalen Mediatheken können wir springen und beschleunigen, wie es uns gefällt. Wenn wir eine Geschichte aber so dominieren, wird sie entzaubert«
Schriftsteller Guido Gin Koster
Als ich meinen Überdruss beim Anblick endloser Streaming-Mediatheken beschreibe, denkt er kurz nach und sagt dann: »Früher übten Geschichten im Radio einen sanften Zwang aus. Man war zwei Minuten nicht dabei und schon draußen. In digitalen Mediatheken können wir springen und beschleunigen, wie es uns gefällt. Wenn wir eine Geschichte aber so dominieren, wird sie entzaubert. Das ist wie eine Autofahrt: Wenn ich selbst fahre, weiß ich, wo es hingeht. Will ich unbekannte Orte sehen, muss ich jemand anderem das Steuer überlassen. Unsere Fantasie verkümmert, wenn wir zu viel Macht über die Geschichten haben.«
Als ich das Videotelefonat beende, hallt ein Satz in mir nach: Unsere Fantasie verkümmert, wenn wir zu viel Macht über die Geschichten haben. Ich erinnere mich an die Vorfreude, wenn meine Mutter eine Kassette einlegte, als ich die Stereoanlage noch nicht bedienen konnte. Spüre wieder die Aufregung, wenn ich einen neuen Winnetou-Teil zum Geburtstag bekam. Wie ich mit meinem besten Freund in unserem Indianerversteck auf dem Dachboden zwischen staubigen Kartons den alten Rekorder einschaltete, der nur eine Start- und Stop-Taste hatte. Im nächsten Moment seufze ich beim Gedanken daran, wie ich gestern Abend vier Filme angefangen, aber keinen zu Ende geschaut habe und frustriert ins Bett ging.
Ich rufe Leonard Reinecke an, der als Medienpsychologe an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz erforscht, wie digitale Unterhaltung unser Wohlbefinden beeinflusst. Ganz am Anfang frage ich ihn, was eine Geschichte überhaupt faszinierend macht: »Wir lieben Geschichten, die uns in eine Welt mitnehmen, deren Probleme uns auch umtreiben. Gute Erzählungen beschäftigen sich mit den großen Fragen von Leben und Tod, Liebe und Verlust. Geschichten sind ein Schutzraum, der Grenzerfahrungen des Lebens simuliert.«
Dass wir Geschichten später ganz anders wahrnehmen, liege am Erwachsenwerden, erklärt Reinecke: »Wenn wir aufwachsen, lernen wir viel übers Leben. Das kann hilfreich sein, wenn man sich in eine Geschichte hineinversetzen möchte, weil man ähnliche Situationen schon erlebt hat. Gleichzeitig ist es schwerer, fasziniert oder überrascht zu werden. Geschichten in Filmen und Serien arbeiten mit klischeehaften Plots und stereotypen Charakteren. Kinder finden das noch spannend, Erwachsene langweilt das schnell.«
Am besten solle ich mich damit abfinden, dass der Zauber der Geschichten aus meiner Kindheit verflogen sei: »Es ist versöhnlicher, sich daran zu freuen, dass man als Kind diese unverfälschte Faszination spüren konnte, die sich vor dem Erfahrungshorizont eines erwachsenen Menschen nicht wiederholen lässt. Das ist in Ordnung, denn heute machen Sie neue Erfahrungen, die Ihnen als Kind nicht möglich waren. Manches lässt sich nicht konservieren, das ist Teil des Älterwerdens.«
So einfach will ich Karl May aber nicht in den ewigen Jagdgründen meiner verlorenen Begeisterung verschwinden lassen. In den Medien drängen Aktivisten darauf, Karl May zu verbieten, auf Social Media beklagen seine Fans vermeintliche »Cancel Culture« und ich bin hin- und hergerissen. Der Schöpfer meiner Kindheitshelden soll also ein Rassist sein?
Vor einer längeren Zugfahrt krame ich meinen alten Discman wieder hervor, säubere das Batteriefach von ausgetretener Säure und bin überrascht, dass er wieder anspringt. Im Internet habe ich mir den Orient-Zyklus bestellt, ein zwölfteiliges CD-Hörspiel nach der gleichnamigen Reiseerzählung, in der sich Karl May kurzerhand selbst zur Hauptfigur gemacht hat. Im Zug mache ich es mir gemütlich, lege die erste CD ein und freue mich auf eine Reise zurück in meine Kindheit.
Es ist fürchterlich. Karl May verprügelt reihenweise arabische Menschen, bekehrt halb Westasien zum Christentum, heilt Kranke auf wundersame Weise mit selbst hergestellten Medikamenten und führt Wüstenstämme dank seines unübertroffenen Wissens in Waffenführung und Kriegskunst zu glorreichen Siegen über ihre Widersacher. Nach der zweiten CD muss ich aufhören.
»Nostalgie stabilisiert unsere Identität und gibt unserem Leben rückblickend Sinn«
Soziologin Katharina Scherke
»Manche Geschichten altern einfach schlecht. Wenn ich mir selbst Filme von früher ansehe, verwundern mich die seichten Storylines.« Das erklärt mir Soziologin und Nostalgie-Expertin Katharina Scherke von der Karl-Franzens-Universität in Graz, vor der ich ein paar Tage später virtuell sitze. Als ich ihr mein Problem schildere, lächelt sie und meint, dass es wohl an mir liege: »Die Geschichten Ihrer Kindheit waren nicht besser als heute. Sie rufen Ihnen aber schöne Erlebnisse ins Gedächtnis.« Ich denke an meine Geburtstage und das Indianerversteck. Daran, wie ich ausgezogene Magnetbänder mit spitzen Fingern wieder auf die Zahnräder der Kassetten fädelte, um meine Lieblingsgeschichten und ihre Helden zu reanimieren. Das pure Glück, wenn sie danach wieder funktionierten. Und wie weh es mir tat, wenn nicht.
»Solche Erinnerungen geben uns Gefühle der Sicherheit und Geborgenheit. Nostalgie ist eine unterbewusste Strategie, um mit dem Heute klarzukommen und tritt besonders dann auf, wenn wir in der Gegenwart verunsichert sind«, fährt Katharina Scherke fort. »Wenn wir uns an unsere Kindheit und Jugend erinnern, verstehen wir besser, wer wir sind. Denken wir an schöne Erfahrungen zurück, macht uns das zuversichtlich. Nostalgie stabilisiert unsere Identität und gibt unserem Leben rückblickend Sinn. Das brauchen wir besonders, wenn wir uns in Umbruchphasen befinden.«
Und tatsächlich: Ich bin kürzlich in eine neue Stadt gezogen, Wohnungssuche und Papierkram haben mich für Wochen in Beschlag genommen. Gleichzeitig quälte ich mich durch das wochenlange Bewerbungsverfahren für einen neuen Job, mir stand ein Neuanfang ins Haus. Aber warum machen mich ausgerechnet die Kassetten so sehnsüchtig? »Analoge Medien wie Fernsehen und Radio waren früher ein sozialer Kitt. Sie strukturierten unser Zusammenleben. Geschichten von damals erinnern uns an gemeinsames Erleben, das uns heute oft fehlt, weil wir digitale Medien individuell nutzen«, sagt die Nostalgie-Expertin und fügt ein bisschen gedankenverloren an: »Nur so ist die damalige Begeisterung ganzer Generationen für Formate wie »Wetten, dass…?« zu erklären. Es lebte davon, dass montags alle in der Schule, auf der Arbeit und am Esstisch darüber sprachen, weil es am Samstag jeder geguckt hatte. «
Der heutige Überdruss lasse sich auch noch anders erklären, gibt mir Katharina Scherke mit auf den Weg: »In der Forschung unterscheidet man zwischen restaurativer und reflektierender Nostalgie. Während die restaurative Nostalgie uns verbittert im Ewiggestrigen hängen bleiben lässt, geht mit der reflektierenden Nostalgie das klare Bewusstsein einher, dass die Vergangenheit vergangen ist und in Erinnerungen gut aufgehoben ist. Sie macht dankbar für das, was war, und bereit für das, was kommt.«
»Lassen Sie die Geschichten in Würde altern. Und lassen Sie los, was Ihnen den Blick auf den Zauber verstellt, den neue Geschichten von heute bergen können«
Soziologin Katherina Scherke
»Also soll ich mich denjenigen anschließen, die Winnetou auf die Mülldeponie der Geschichte werfen wollen?«, frage ich die Nostalgie-Expertin trotzig. Sie schaut mich an, wie man ein Kind ansieht, das ein Puzzlespiel von sich schleudert, weil es ihm nicht gelingt. »Der kritische erwachsene Blick auf Geschichten von früher kann in Konflikt geraten mit der nostalgischen Faszination, das ist ganz normal«, sagt sie. »Seien Sie so mutig, selbst zu entscheiden, ob Ihnen die Geschichten noch etwas geben.«
Am nächsten Tag lege ich das zwölfteilige Hörspiel von Karl May in meine Kassettenkiste und trage alles zusammen quer durch die Stadt zu einem Geschäft für gebrauchte Tonträger. Denn genau das habe ich mit meinen Kassetten gemacht: Ich habe sie gebraucht. Jetzt aber brauche ich sie nicht mehr. Ich tue das, was Katharina Scherke mir nach unserem Interview noch riet: »Lassen Sie die Geschichten in Würde altern. Und lassen Sie los, was Ihnen den Blick auf den Zauber verstellt, den neue Geschichten von heute bergen können. Oder besser gesagt: Auf den Zauber der Momente, die Sie heute erleben.« Ich fühle mich seltsam erleichtert. Schöne Momente sehen heute anders aus und vielleicht sollte ich aufhören, sie mit meiner Kassetten-Kindheit zu vergleichen.
Die Kassetten sind von meinem Dachboden verschwunden und aus meinem Kopf der Drang, Geschichten so zu erleben wie früher. Das ist nämlich nicht fair – weder mir noch den Geschichten gegenüber. Winnetou ist tot. Und das ist okay. Denn nicht er hat mich glücklich gemacht, sondern die Momente, die ich mit ihm erlebt habe. Und diesmal ist es ein Abschied in Würde.