Ich schließe den Knopf der Jeans, der ungewohnt tief sitzt. Kremple mein Shirt nach oben, drehe meine Hüfte nach links und werfe einen Blick über die Schulter auf meinen Po. An der Wand der Umkleide hängt ein Plakat: »Du hast gedacht, Jeans mit niedrigem Bund sind schon längst passé? Wir haben Neuigkeiten für dich: Der Jeans-Trend aus den Nullerjahren ist wieder da und tragbarer denn je.« Ja, das hatte ich gedacht. Dass Low-Waist-Jeans ausgestorben seien, vergraben zusammen mit Kate Moss’ berühmtem Satz: »Nichts schmeckt so gut, wie sich Dünnsein anfühlt.« Die Models unter dem Werbeslogan in der Kabine könnten das Gleiche sagen.
Ich mustere meinen Po und spüre diese bekannte Unzufriedenheit. Die Hose sieht an mir gar nicht aus wie an den Models neben mir. Obwohl ich mich als schlank bezeichnen würde, als sportlicher Typ, sieht es aus, als hätte ich über dem Jeansbund Hüftspeck. Gleichzeitig wirkt mein Hintern ausladend und unrund. Tragbarer denn je? Ihr macht doch Witze!
Zumal ich vor nicht allzu langer Zeit im selben Laden in der Umkleidekabine stand und mich nicht kurvig genug für eine High-Waist-Jeans fand, jener Jeansform mit einem Bund, der auf oder sogar über dem Bauchnabel sitzt und um die man in den vergangenen Jahren beim Hosenkauf kaum herumkam. Meine Figur ist dieselbe geblieben, bis auf ein paar Schwankungsgramm vielleicht – wie kann es sein, dass ich mich jetzt nicht dünn genug fühle für eine Low-Waist-Jeans?
Vielleicht ist die bessere Frage diese: Warum habe ich überhaupt das Bedürfnis, diese Hose anprobieren und kaufen zu müssen? Es darf nicht wahr sein, denke ich, als ich mich aus der Jeans schäle, dass innerhalb von kürzester Zeit so gegensätzliche Jeansformen in Mode sind, dass sie ein und derselben Person gar nicht stehen können. Alles, was ich hier will, ist eine Jeans, in der ich mich wohl fühle. Stattdessen starre ich im grellen Kabinenlicht auf meinen Po und habe das Gefühl, mal wieder nicht richtig zu sein.
Einige Tage später rufe ich bei Michael Wagner an, Lehrer für Modedesign an der Deutschen Meisterschule für Mode und Design in München. Die Modeindustrie funktioniere wie ein Pendel, sagt er: Irgendwann könne die Hose nicht mehr enger sitzen oder der Bund nicht mehr tiefer. Dann schwinge der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Dabei gehe es vor allem – klar – darum, die Leute zum Kaufen zu bringen. »Das Verständis für Nachhaltigkeit, für die Produktionsschritte hinter der Mode und deren Schattenseite geht dabei leider total verloren.« Und das Verantwortungsgefühl dafür, was dieses Hin und Her mit den Körperbildern junger Menschen macht, offenbar auch.
»Es wird ein Körperideal vorgeschrieben«, sagt Wagner. »Eine Figur, an der ein Trend besonders gut aussieht. Aber in der Realität gibt es viele verschiedene Figuren. Nur eine Minderheit der Trägerinnen und Träger entspricht diesem Ideal oder kann diesem Ideal überhaupt gerecht werden.« Trotzdem setzten sich solche Trends immer wieder durch und würden dann schnell zum Mainstream, an dem sich jede und jeder abarbeiten kann. Ich erinnere mich daran, wie vor einiger Zeit auf einmal die ersten Schlaghosen seit zwei Jahrzehnten zu sehen waren. Ich war irritiert und fand es nicht schön. Aber dann sah ich immer mehr und dachte: »Schaut schon irgendwie cool aus, vielleicht kaufe ich mir auch eine.« Ich hatte mich so sehr an den Anblick gewöhnt, dass ich ihn auf einmal übernehmen wollte.
Auf einmal war es wie selbstverständlich, dass der Hosenbund rund 10 bis 15 Zentimeter höher saß
So wie schon in den 2010er-Jahren, als ich Jugendliche war, und man die Beine auf einmal in eine Skinny Jeans quetschen sollte. Schön eng musste die sitzen, wie eine zweite Haut, vom Bund bis an die Fußknöchel. Dass man diese Hose nur wieder ausziehen konnte, indem man sie wie eine Strumpfhose nach unten streifte und auf links stülpte, war unpraktisch, aber nebensächlich. Es ging darum, dass man die Illusion einer »Thigh Gap« erschaffen konnte, einer Lücke zwischen den Oberschenkelinnenseiten. Ich war damals gerade Teenager geworden und habe den Trend nicht hinterfragt, sondern wollte eine von den »Coolen« sein. Dazu gehörte in meiner Schulklasse eben, dass man Skinny Jeans trug.
Ein paar Jahre später kam die Sanduhr-Figur in Mode. Kim Kardashians Körper war das neue Ideal: breite Hüften, schmale Taille, großer Hintern, lange Beine. Auf einmal war es selbstverständlich, dass der Hosenbund rund 10 bis 15 Zentimeter höher saß und in den Läden High-Waist-Jeans hingen.
Das machte die Suche nach der perfekten Hose nicht unbedingt einfacher. Mit der sogenannten Mom Jeans, einer High-Waist-Jeans mit vergleichsweise weitem Schnitt am Gesäß, war das zum Beispiel so: Passte mir der Bundumfang an der Taille, schlackerte der Stoff an meiner Hüfte und am Hintern. Saß die Hose untenrum eng genug und betonte den Po, bekam ich den Knopf oben kaum noch zu. Einmal entschied ich mich zugunsten eines schönen Pos für die kleinere Größe. Schlechte Entscheidung: Nach dem Essen musste ich den Knopf immer unauffällig öffnen. Oder ich hatte einen sogenannten Camel Toe: Die Hose saß im Schritt so eng, dass sich dort alle Konturen abzeichneten – in Form eines Kamelzehs. Trotzdem wollte ich so eine Hose haben – weil alle sie hatten, und weil ich mir ingeheim erhoffte, dass sie mir ein bisschen mehr Kurven und damit Aufmerksamkeit verschaffen würde.
Während sich die meisten Kleidungsstücke dem Körper anpassen, mit ihren unterschiedlichen Stoffen lockerer oder fester sitzen, sich weiten oder mit einem Gürtel enger machen lassen, ist es bei der Jeans anders herum: Hier muss sich der Körper anpassen. Der Jeansstoff ist verhältnismäßig hart, die Nähe fest, oft mit Nieten verstärkt. Gewichtsschwankungen macht eine Jeans nicht mit, sie zeigt unbarmherzig, wie man gerade so in Form ist. Sie umschmeichelt nicht, sondern umschließt den Körper.
Umso größer war das Versprechen der Wide-Leg-Jeans, die der Mom Jeans folgte. Sie wurde damit beworben, dass sie zu jeder Figur passe, außerdem solle der lockere Schnitt laut Frauenzeitschriften und Modeblogs »Problemzonen« an Oberschenkeln oder Waden verdecken. Doch mal abgesehen davon, dass breitere Oberschenkel oder Waden kein Problem sind, das es zu kaschieren gilt: Weil die Wide-Leg-Jeans von der Hüfte bis zum Knöchel weit geschnitten war und außerdem meistens bis kurz über den Boden reichte, war sie vor allem für längere Menschen geeignet. »Du hast Glück, dass du so groß bist«, sagte eine Freundin zu mir. »Ich kann solche Hosen nicht tragen, weil sie mir viel zu lang sind und ich darin versinke. Ich wünschte, ich hätte längere Beine.« Ich hatte vorher noch nie von ihr gehört, dass sie ihre Beine zu kurz fand, da musste erst die Wide-Leg-Jeans kommen.
Mit dem Revival des Heroin-Chics vor einiger Zeit (Stichwort Kate Moss, Stichwort Neunzigerjahre) hat es nun also die Low-Waist-Jeans zurück in die Geschäfte geschafft. Und mit ihr eine neue alte Schönheitsnorm: eine dünne, schmale Silhouette. Passt gut zu den bauchfreien Tops, die man jetzt auch wieder anziehen soll, sogar Bauchnabelpiercings sieht man wieder. Frisch gestochene, wohlgemerkt. Weil eine neue Jeansform eben auch bedeutet, den Körper in sie hineinformen zu müssen, gibt es auf Youtube oder Tiktok längst sogenannte Anti-Muffin-Top-Workouts, beispielsweise von der Influencerin Pamela Reif, um das Hüftfett schmelzen zu lassen. Ein »Muffin Top« ist die verniedlichende Bezeichnung des sichtbaren Bauch- und Hüftspecks zwischen tiefem Hosenbund und bauchfreien Oberteil, der von der Form her an das obere, aufgegangene Teil eines Muffins erinnert. Will man natürlich nicht haben, deshalb muss man da ran, glaubt man Influencerinnen zumindest.
Je länger ich auf den Jeans-Zeitstrahl der vergangenen zwei Jahrzehnte schaue, desto klarer wird mir: Ich will da nicht mehr mitmachen
Mit der Low-Waist-Jeans kommt also das Bauchmuskel-Workout, mit der Mom Jeans das Training, das den Po schön rund macht und gleichzeitig die Taille strafft. Und mit der Skinny Jeans das Schwitzen auf dem Stepper bei gleichzeitigem Kohlenhydrateverzicht.
Je länger ich auf den Jeans-Zeitstrahl der vergangenen zwei Jahrzehnte schaue, desto klarer wird mir: Ich will da nicht mehr mitmachen. Ich will kein Rädchen in einer Industriemaschine mehr sein, die Geld scheffelt mit für viele Menschen unerreichbaren Schönheitsidealen, denen man immer weiter hinterherrennt, weil vielleicht das nächste angesagte Modell endlich richtig sitzen könnte. Die den ständigen Trendwandel braucht, um attraktiv und lukrativ zu bleiben.
Ich finde mich völlig okay. Ich mag meine starken Beine, mit denen ich Rad fahren, Beachvolleyball spielen, Ski fahren kann. Ich will mir nicht von irgendwelchen Marken einreden lassen, dass sie mangelhaft sind, nur weil sie nicht optimal in die schmale Low-Waist-Jeans passen.
Ich fühle mich gut bei diesem Entschluss, als emanzipierte ich mich von etwas. Gleichzeitig weiß ich, dass es leichter gesagt als getan ist. Mode kann ja bei beidem helfen: beim Wunsch, dazuzugehören – und sich abzugrenzen. Gerade junge Menschen auf der Suche nach sich selbst und nach Verbindung finden in ihr Individualität und Halt, das habe ich als Teenager selbst gespürt. Und auch Social Media spielt laut Michael Wagner eine große Rolle bei der Wahl der Mode: »Man kauft sich das Gefühl, so auszusehen wie die Modeinfluencer auf Instagram.«
Sein Rat: Nicht die perfekte Form, sondern das perfekte Jeanslabel für sich finden; eines, in dessen Modellen man gern den ganzen Tag rumläuft, weil Verarbeitung, Material, Schnitte und Preis stimmten. »Man sieht viel attraktiver aus, wenn man sich gut fühlt in dem, was man trägt«, sagt er. Klar, dafür muss man erstmal ein entspannteres Gefühl zu seinem Körper entwickeln, das nicht von fremden Trends bestimmt ist. Aber wenn man sich mal traue, sich vom Diktat der Mode loszusagen, vom – ebenfalls oft trendgesteuerten – Urteil anderer, könne auf einmal ein völlig neues körperliches Selbstbewusstsein entstehen, meint Wagner. Eine große Aufgabe, sicher. Aber gut möglich, dass sie sich lohnt.
Ich werde mir nie wieder eine Jeans kaufen mit einem Bund, der einschneidet, egal ob über oder unter dem Bauchnabel. Nie wieder Knöpfe, die ich nach dem Essen aufmachen muss, weil mir sonst die Luft wegbleibt. Kein Camel-Toe, kein Muffin-Top. Mein Körper ist kein Trend. Zumal die Jeans ursprünglich mal einen ganz anderen Zweck hatte: Sie war robuste Arbeiterklamotte, eine »bequeme Hose mit viel Bewegungsfreiheit, in der man sich wohlfühlt«, wie Wagner es ausdrückt. Das soll sie für mich ab jetzt auch sein.