Am ersten warmen Samstag des Jahres liege ich mit leergeweinten Augen in unserem Wohnzimmer. Würde ich das Fenster öffnen, würden mir von draußen frische Luft und das kollektive, glückselige Seufzen einer ganzen Stadt entgegenfliegen. Doch während meine Freundinnen den Sommer mit sprudelnden Getränken und schneller Musik an ihrem Flohmarktstand einläuten oder Picknicks im Park vorbereiten, habe ich mich auf der Couch in eine Decke eingewickelt. Der Frühsommer kommt nicht zu mir durch. In mir drin fühlt es sich finster an, und mein Körper hört nicht auf, vor Kälte zu zittern, als hätte er den Wetterbericht verpasst. Meine Mitbewohnerinnen bringen mir frische Wassergläser. Ich bringe das Wochenende rum – und merke: Irgendwas stimmt mit mir nicht. Nicht mit meinem Körper, sondern mit meiner Psyche. Ich bin in einem tieferen Loch, als ich es von mir kenne.
Einige Besuche von Freunden und aufmunternde Nachrichten von Freundinnen später scrolle ich gelangweilt durch Beiträge, die mir Instagram vorschlägt. Meine Augen bleiben an dem Beitrag eines bekannten Poesie-Accounts kleben. In bunter Handschrift steht dort auf weißem Hintergrund: »Wer schön sein will, muss heilen.« Dabei ist heilen natürlich nicht gemeint im Sinne von: andere gesund machen. Im Netz hat das Wort häufig eine andere Bedeutung: »heilen« bedeutet gesund werden. Und wer schön sein will, soll das tun. Der Spruch trifft direkt in mein müdes, trauriges Herz, für das ich gern ein Pflaster hätte. Am besten so ein bedrucktes Kinderpflaster, das Eltern einem früher über aufgeschürfte Wunden klebten, wenn man zu übermütig gespielt hatte. Möge es jetzt genauso schnell wirken, so effektiv Schmerz und Tränen vertreiben, möge ich mit ihm genauso cool aussehen wie damals mit dem Dschungelbuch auf meinem Knie. Ich will genau das, was mir da auf meinem Bildschirm entgegenleuchtet. Ich will den Schmerz nicht. Und natürlich will ich schön sein. Die Konsequenz ist damit klar: Ich muss heilen.
Es ist kein Zufall, dass wir die mystische Vorstellung einer idealen Psyche mit Attraktivität in Verbindung bringen
Es ist nicht das einzige Mal, dass mir dieses Wort in sozialen Medien begegnet. Ich sehe regelmäßig schnell geschnittene Videos von jungen Frauen, die ihre Morgenroutine filmen oder vor Sonnenuntergängen die Arme gen Himmel strecken. Diese Videos betiteln sie dann mit Worten wie: »In my healing era«. Mir werden Bildergalerien vorgeschlagen mit dem vielversprechenden Aufmacher: »Anzeichen, dass du heilst«. Und Spotify zeigt mir eine Playlist mit dem Titel »hot girl healing era«.
Dabei ist das Wort Heilen ein einziges falsches Heilsversprechen. Es ist, um ein anderes Wort zu verwenden, das aus der vermeintlichen Psychotherapiesprache in den Alltag gewandert ist, toxisch. Denn es vermittelt den Eindruck, als wären die psychischen Probleme eines Menschen nichts Komplexeres als ein aufgeschlagenes Knie. Das Wort verspricht sich schließende Wunden, es verspricht mir eine Lösung für mein Problem. »Ich muss jetzt heilen« klingt wie »Ich muss diesen Sonnenbrand jetzt gut eincremen«.
Das Wort suggeriert, dass es im Leben eines Menschen einen idealen Zustand gibt. Aber das ist nicht realistisch. Es gibt in jedem Leben Phasen, bessere und schlechtere. Es gibt Tage oder Stunden oder auch nur Minuten, in denen man gut mit den Themen umgehen kann, die einen belasten. Und es gibt andere Momente wie meinen ersten Sommertag in diesem Jahr. Alles daran ist okay, nichts davon macht einen Menschen schöner oder hässlicher. Und was ist das überhaupt für eine Kategorie?
Es ist kein Zufall, dass wir die mystische Vorstellung einer idealen Psyche mit Attraktivität in Verbindung bringen. Denn die Idee, sich zu einer höheren, gesünderen Stufe seines Selbst optimieren zu können, funktioniert für Schönheit genauso wie für die psychische Gesundheit. Sie kann uns dazu bringen, Dinge zu konsumieren, Dinge »für sich zu tun«, was oft heißt, Dinge zu kaufen. Palo-Santo-Räucherstäbchen, CBD-Öle, beruhigendes Melatonin – dass es auf den Webseiten deutscher Drogeriemärkte seitenlang Selfcare-Tipps gibt, liegt nicht daran, dass sich die Unternehmen besonders für die Ausgeglichenheit unserer Psyche interessieren. Sie interessieren sich für unsere Kaufkraft.
Und es wäre ja schön, wenn es nur das bräuchte. Nur einen Selbstfindungstrip, nur einen durchgeplanten, gleichbleibenden Ablauf, um immer besonnen in den Tag zu finden. Dieses Heilen, wie es so konsumiert und vermarktet wird, ist jedoch begrenzt erreichbar. Nicht alle haben gleichen Zugang zu den Ressourcen, die man dafür braucht. Die finanziellen und zeitlichen Bedingungen, zu denen sich eine Therapie vereinbaren lassen, sind durch strukturelle Benachteiligungen sehr ungleich verteilt. Zeit, auch für ernstgemeinte Selbstfürsorge, Zeit, die man also aufbringen muss, wenn man heilen will, ist ein Privileg – und der Anspruch auf ein psychisch gesundes und dadurch schönes Ich ist unfair.
Das Wort »Heilen« ist in der psychotherapeutischen Praxis keine gängige Vokabel
Ich rufe bei der klinischen Psychologin Sophia Wieländer an und erzähle ihr von dem »Wer schön sein will, muss heilen«-Zitat. Sie fragt als erstes: »Wer sagt denn, dass Schönheit das Ziel ist?« Ich frage zurück: Aber wenn man Attraktivität ausklammert – sind Menschen beziehungsfähiger, wenn sie nicht mehr so viel mit sich selbst kämpfen müssen? »Es gibt sicher Themen, die Beziehungen schwierig machen, Bindungsstörungen zum Beispiel«, sagt Wieländer. »Aber an denen kann man arbeiten, und darum geht es zum Beispiel auch in einer Therapie. Wir alle haben Beziehungen hinter uns, wurden verletzt, haben verletzt, das gehört dazu.« Worum es in einer Therapie jedoch nicht gehe: all das geheilt zu haben. »Diesen Anspruch vor Augen zu haben, kann sehr unglücklich machen: dass man eine Psyche braucht, die geheilt ist und stabil. Das sind Ziele, die wir nicht erreichen können. Und gerade das macht uns doch auch menschlich«, sagt Wieländer. In allen Lebensbereichen werde verlangt, dass wir uns bis zur Perfektion hin optimieren. »Nichts soll uns verletzen, wir sollen gut funktionieren und am besten kein Leiden haben.«
Dabei ist fast beeindruckend, welche unterschiedlichen psychischen Leiden das Idealbild Heilen hinter sich verschwinden lassen kann. Strukturelle Unterdrückung, Erfahrungen patriarchaler Gewalt, Depressionen, Angststörungen, Traumata, gebrochene Herzen. All das soll sich in der »healing era« auflösen. Auch wenn man diese Schmerzen nicht gegeneinander aufwiegen kann, brauchen unterschiedliche seelische Wunden unterschiedliche Zuwendung. Kein Mensch kann im Alleingang Verletzungen und Narben wegheilen, die struktureller Rassismus an ihnen hinterlässt. Keine Frau kann individuell so an sich arbeiten, dass sie sexualisierte Gewalt und Übergriffe nicht mehr wütend oder ängstlich machen. Niemand kann psychische Krankheiten im Selbstdialog therapieren. Und auch nicht jedes gebrochene Herz verwächst sich so von ganz allein.
Dass innere Verletzungen eben nicht verheilen wie aufgeschürfte Knie und dass dieser Wunsch zwar verständlich, aber nicht besonders sinnvoll ist, merkt man auch daran, dass das Wort »Heilen« in der psychotherapeutischen Praxis keine gängige Vokabel ist. Eine vollkommene Heilung gibt es nach Meinung der Psychologin Sophia Wieländer auch gar nicht – und die Vorstellung, dass diese erreichbar wäre, führe sogar zu Unglück. Was ein besseres Ziel wäre? »Vielleicht kann man es sich eher vorstellen wie einen ständigen Weg, auf dem man seine Symptome, sein Leiden lindern und seine Lebensqualität verbessern kann, zum Beispiel mithilfe einer Therapie.« Lindern also, nicht heilen.
Der Wunsch zu heilen ist vielleicht ein guter Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt. Dass es irgendwo schmerzt, irgendwo blutet, dass eine Wunde offen ist. Dass sie endlich heilen und niemand mehr an diese offene Stelle geraten soll, vor allem nicht mit dreckigen Fingern. Diese Wünsche können uns zeigen, dass wir Hilfe wollen und vielleicht auch brauchen. Ein sehr mühsamer Prozess, und er nimmt wohl kein Ende. Das ist im ersten Moment vielleicht etwas ernüchternd, besonders wenn man wie ich ungeduldig ist mit seinen Verletzungen. Weil jetzt endlich Badewetter ist und die Tränen sich manchmal trotzdem schon morgens im Hals festsetzen.
Solche Momente liegen aber sowieso jenseits der romantischen Vorstellung des Heilens. Viel besser als dieses unerreichbare Ideal finde ich mittlerweile den alltagspraktischen Tipp einer Freundin für schlechte Tage: »Du überlegst, was dir guttun könnte. Und das ist das das Beste, was du in diesem Moment tun kannst.« Oft bedeutet das für mich: Ich umgebe mich mit Menschen, denen es egal ist, ob ich schön bin. Und die nicht nur eine geheilte Version von mir mögen, sondern auch eine realistische.