Ein Dienstagabend im März, mein Mann liest den Kindern im Bett etwas vor, ich durfte schon Gute Nacht sagen. Den ganzen Tag habe ich mich auf ein bisschen Zeit für mich gefreut, auf diese zwei, drei Stunden, die anbrechen, wenn die Teams-App auf dem Handy nicht mehr pingt, niemand mehr einen Papierflieger gebastelt haben oder noch einen Joghurt löffeln möchte. Wenn geklärt ist, wie und mit wem die Kinder am nächsten Tag in den Kindergarten und zum Turnen kommen und was Kita-Freund Ben sich zum Geburtstag wünscht.
In der Mittagspause hatte mir ein Kollege von seinem Zehnkilometerlauf am Wochenende erzählt und ich dachte: Heute ist der Abend, an dem ich endlich die neuen Joggingschuhe ausprobiere!
Aber in dem Moment, in dem es rein gar nichts mehr zu tun gibt, das sofort getan werden muss, legt sich wieder diese bleiernde Müdigkeit über mich. Statt die Laufschuhe zu schnüren, krieche ich aufs Sofa und schmeiße den Fernseher an. Finde nur Quizshows und Reisedokus, nehme also doch wieder mein Handy zur Hand und fange an, in Onlineshops rum zu daddeln, der Sohn wünscht sich Fußballsocken. Bis mein Mann aus dem Kinderzimmer geschlichen kommt und mich verwundert anschaut: »Wolltest du nicht joggen gehen?« – »Jaaaa«, gähne ich, »aber ich bin so müde…« Weil ich mich ertappt fühle, raffe ich mich auf und fange an, die getrocknete Wäsche abzuhängen. »Immerhin«, denke ich, »noch irgendwas geschafft. Laufe ich halt morgen, wenn ich nicht so fertig bin.« Genau.
Dabei weiß ich doch, dass ich viel weniger fertig wäre, wenn ich regelmäßiger Sport machen würde. Wenn ich trotz der abendlichen Sofaschwere den Hintern hochbekäme. Wenn ich die Wäsche einen weiteren Tag hängen ließe und die Sockenrecherche verschöbe oder delegierte. Aber ganz oft bekomme ich es einfach nicht hin.
Das Leben will ständig so viel von mir, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es auch mal kurz ohne mich auskommt.
Und wie mir geht es offenbar vielen Frauen, auf der ganzen Welt. Das zumindest besagt eine Studie, die jüngst im Auftrag des Sportartikelherstellers Asics gemeinsam mit dem King’s College London durchgeführt wurde. Demnach sind 51 Prozent aller Frauen unzufrieden mit ihrem Aktivitätslevel. Und als ob die Unzufriedenheit nicht schon schlimm genug wäre, bringt zu wenig Bewegung bekanntermaßen weitere Probleme mit sich: Je weniger körperlich aktiv Frauen sind, desto schlechter geht es ihnen häufig – physisch wie psychisch. Und umgekehrt: »Frauen, die angeben, dass sie regelmäßig Sport treiben, sind glücklicher, selbstbewusster und weniger gestresst«, heißt es dazu in der Studie.
Traurig, nicht wahr, wenn man bedenkt, dass es mehr als der Hälfte der Frauen auf der Welt schon mit relativ einfachen Mitteln besser gehen könnte. Dabei kommt der viel größere Aufreger der Untersuchung erst noch. Denn während 74 Prozent der Frauen angaben, dass sie wegen anderer Verpflichtungen schlicht zu wenig Zeit für Sport hätten, sahen die befragten Männer einen ganz anderen Grund: Frauen würden so wenig Sport machen, weil sie sich in ihren Körpern nicht wohlfühlten (tatsächlich spielen körperliche Unsicherheiten eine Rolle für die Frauen, aber nur für 37 Prozent).
Um es noch mal deutlich zu machen: Über die Hälfte der Frauen weltweit schafft es nicht, so viel Sport zu machen, wie sie gern würde, weil sie tagein, tagaus damit beschäftigt ist, den Laden um sich herum am Laufen zu halten – und die Männer dieser Frauen denken, sie hätten keine Lust auf Sport, weil sie sich unwohl dabei fühlten.
»So gut wie jede Frau in meinem Umfeld denkt erst an alle anderen, bevor sie an sich denkt«
Brendon Stubbs
Mal abgesehen davon, dass man sich schon fragt, wieviel Erwartungsblick hinter dieser männlichen Einschätzung steckt: Wie kann es sein, dass Frauen und Männer die Lage so unterschiedlich beurteilen? Ein Anruf bei Professor Brendon Stubbs vom King’s College, wissenschaftlich verantwortlich für die Studie und weltweit führend in der Forschung zum Einfluss von Bewegung auf das mentale Wohlbefinden. »Ich glaube wirklich, dass es einen großen Unterschied in der Wahrnehmung gibt.« Und woher kommt der? »Die allermeisten Frauen lernen schon früh im Leben, Verantwortung für andere zu übernehmen. So gut wie jede Frau in meinem Umfeld denkt erst an alle anderen, bevor sie an sich denkt«, sagt Stubbs. Männer würden in der Regel hingegen so sozialisiert, dass es völlig okay sei, auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu achten. »Deshalb kommen sie womöglich gar nicht auf Idee, dass Frauen das anders handhaben könnten und freie Zeit nicht automatisch als Zeit für sich begreifen und nutzen.«
Und sie kommen vermutlich auch nicht auf die Idee, dass ihre Haltung zur eigenen Freizeitgestaltung beeinflussen könnte, wie die Partnerin ihre Zeit nutzt – nämlich viel weniger für sich. Denn das ist ja die Gedankenlast, die viele Frauen mit sich herumtragen (ob im Einzelfall gerechtfertigt oder nicht, ist die andere Frage, aber oft liegt ihr eben doch die entsprechende Erfahrung zugrunde): »Wenn ich es nicht mache, macht es niemand.«
Die Harvard-Juristin und Autorin Eve Rodsky hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie unterschiedlich Männer und Frauen mit ihrer Zeit umgehen. Im Interview mit dem SZ-Magazin sagte sie vor einiger Zeit, jeder Mensch habe nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung, »aber wir wissen, basierend auf Daten, dass Männer doppelt so viel Freizeit haben wie Frauen. Männer sind großartig darin, ihre Zeit zu schützen, und die Zeit von Frauen ist wie Sand. Sie rinnt uns durch unsere Finger.«
Weil die Studie zum sogenannten »Gender Exercise Gap« eine globale Ungleichheit beschreibt – wie alle »Gender Gaps«, von denen man in denen vergangenen Jahren so viel gehört und gelesen hat und die alle ja irgendwie zusammenhängen, weil sie ganz einfach die Kluft zwischen der männlichen und weiblichen Lebenswelt beschreiben –, wollte ich in diesem Text ursprünglich nicht von mir schreiben. Aber als berufstätige Mutter zweier Kinder im Grundschul- und Kindergartenalter hat er dann eben doch mehr mit mir zu tun, als mir recht ist. Ich wollte das Ich auch vermeiden, weil ich mit meiner Sporthistorie nicht das klassische Beispiel bin; ich habe bis in meine Zwanziger hinein Leistungssport betrieben, Sport studiert, mich also immer bewegt. Jeden Tag, außer ich war krank oder verletzt, aber eigentlich auch dann. Mit Anfang 30 kam meine Tochter auf die Welt – und damit hat sich auch bei mir schlagartig etwas geändert: Ich hätte mir eher ein Bein abgehackt, als dass ich das Kind hungrig, müde oder mit voller Windel sich selbst überlassen hätte, um eine Runde laufen zu gehen.
Wobei ich es ja gar nicht sich selbst überlassen hätte – denn es hat ja einen Vater, der bis heute mantraartig wiederholt: Nimm dir die Zeit, die du brauchst! Wir schaffen das! Ich schaffe das! Trotzdem bekomme ich es bis heute nicht immer hin, mich selbst zu priorisieren, obwohl ich weiß, dass es mir und damit der ganzen Familie zugutekommt, wenn ich mehr auf mich achte und Dinge mache, die mir guttun. Von Freundinnen und Bekannten weiß ich, dass es bei ihnen ähnlich ist. Dass sie manchmal sogar ein richtig schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich Zeit für sich und Sport nehmen – obwohl ihr Partner ihnen sagt: Mach das auf jeden Fall!
Zu sehr spüren Frauen offenbar auch im Jahr 2024 noch die gesellschaftliche Erwartung, dass sie da zu sein haben für die Familie. Dass sie bitte erst allen anderen die Sauerstoffmasken überziehen sollen – und dann erst sich selbst, wenn es schon fast nicht mehr geht. Dabei wissen doch alle, wie gefährlich diese erlernte Selbstlosigkeit ist. In Island hat deshalb im vergangenen Herbst die Hälfte aller Frauen gestreikt. Das Ergebnis: Das Leben in Island kam für kurze Zeit weitgehend zum Stillstand.
Brendon Stubbs vermutet aber, dass es noch einen anderen Grund dafür gibt, warum Frauen den Sport bei vollem Terminkalender oft hinten runterfallen lassen: weil er für sie eine Funktion besitzt, die nicht ausschließlich mit Selbstfürsorge assoziiert ist. Für viele Frauen habe sich der Sport im Laufe des Erwachsenwerdens vom Spaß an ungezwungener Bewegung zu einem Instrument entwickelt, um sich zu optimieren und den Körper zu formen. »Ich glaube, dass das schon früh anfängt: nämlich im Schulsport. Für viele weniger sportliche Kinder ist er eine Qual, weil sehr spezifische Leistungsfähigkeiten bewertet werden.« Sport bedeute dann nicht eine gute Zeit, sondern Überwindung.
»Haben die Männer, die körperliche Unsicherheiten als Grund für wenig Sport bei Frauen vermuten, dann vielleicht doch einen Punkt?«, frage ich. Stubbs sagt, es hänge wohl auch hier, wie so oft, vieles miteinander zusammen: Frauen wollten sich bewegen, erlebten Sport an sich aber oft spaltendes und wertendes Instrument. Sie lernten die Gleichung »sportlich = leistungsstark = schlank«. »Darüber geht die Freude an der Bewegung verloren, und ich kämpfe nur für etwas, das mir Freude macht und das ich als wertvoll für mich ansehe.«
Viele Frauen fühlen sich schlecht, wenn sie sich Zeit für Sport nehmen. Und sie fühlen sich schlecht, wenn sie keinen Sport machen
Tatsächlich hat der Sport seine spielerische Bedeutung auch in meinem Leben ein Stück weit eingebüßt: Er steht nicht mehr nur für sich, für Leichtigkeit. Sondern er ist zu einem manchmal sogar lästigen Mittel geworden, mit dem ich meinen Körper pflege, ihn stärker, beweglicher, straffer, schmerzfreier mache. Zu einer Pflicht. Und wie oft habe ich am Ende des Tages eben nicht auch noch Kraft für eine weitere Pflichtaufgabe? Wenn ich ehrlich bin, hat Sport für mich im Alltag mittlerweile oft weniger mit wohltuender Selfcare als mit Carearbeit an mir selbst zu tun. Habe ich es geschafft, mich zum Sport zu bewegen, dann macht mir das Spaß. Dann fühle und genieße ich das Spielerische. Aber die Hürden bis dorthin sind viel, viel größer geworden.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Wahrscheinlich haben beide ein bisschen Recht in ihrer Einschätzung, Männer wie Frauen. Frauen bleibt zu wenig Zeit für Sport, weil ihre Tage so unglaublich voll sind mit Sorge- und Erwerbsarbeit. Und gleichzeitig räumen sie dem Sport nicht genug Zeit ein, weil er für sie vor allem auch Arbeit bedeutet. Viele Frauen fühlen sich schlecht, wenn sie sich Zeit für Sport nehmen. Und sie fühlen sich schlecht, wenn sie keinen Sport machen.
Wo ist ein Ausweg aus diesem Dilemma? Die Autorinnen und Autoren der Studie haben einige Bereiche identifiziert, in denen sich ihrer Meinung nach etwas ändern müsste: Bewegung solle für Frauen zugänglicher gestaltet, Kinderbetreuung, Arbeit, andere Verpflichtungen und die finanzielle Situation mehr berücksichtig werden. Bewegung solle inklusiver sein, damit keine Frau befürchten müsse, verurteilt zu werden, egal wie sie aussieht und auf welchem Fitnesslevel sie sich bewegt. Dafür müsse die Sportwelt sich endlich auch mit ihren Geschlechterstereotypen auseinandersetzen. Und, entscheidender Punkt: Wir müssten neu definieren, was Sport und Bewegung eigentlich bedeute.
Vielleicht würde es helfen, wenn Mädchen und Jungen früh lernen würden, dass Bewegung überhaupt nichts muss, außer Spaß machen. Dafür müsste wohl das starre Schulsport-Curriculum mit Fußball, Leichtathletik, Gerätturnen aufgebrochen werden. Sport könnte als Bestandteil eines Faches mit dem Namen Selbstfürsorge eine ganz neue Rolle in der Ausbildung junger Menschen einnehmen. Wenn »Ich treibe Sport« für alle mehr heißt, als ein langwieriges, zermürbendes Workout zu absolvieren, das einen hoffentlich fitter und schlanker macht, sondern Bewegung einfach zu einer flexiblen, aber rechtmäßigen Gesundheitsroutine wie Zähneputzen oder Wassertrinken gehört – dann hat auch niemand mehr ein schlechtes Gewissen, wenn er oder sie sich dafür die nötige Zeit nimmt.
Wenn die Studie eines gezeigt hat, dann, dass es sich dabei um ein so weit verbreitetes, gesellschaftliches Problem handelt, dass es nicht in der individuellen Beziehung geklärt werden kann nach dem Motto: Redet besser miteinander, dann kommt jede und jeder schon auf genug Me-Time. Derartige Veränderungen brauchen Zeit. Was also tun bis dahin? Wie wäre es, wenn Männer ihre Frauen und Freundinnen regelmäßig fragen, ob sie genug Zeit haben, um sich so viel zu bewegen, wie sie gern würden? Und falls nicht, aktiv Ausschau halten nach vollen Wäscheständern, Geburtstagsgeschenken für Kita-Freunde oder verkrusteten Töpfen und alles so schnell wie möglich erledigen, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommt.