Hätte ich etwas sagen müssen?

In der Kneipe, beim Einkaufen, im Flugzeug: Überall schnappt man rechtspopulistische Thesen oder Verschwörungstheorien auf – denen man laut widersprechen möchte. Aber dann schweigt man doch, aus Frust, Überforderung oder Faulheit. Warum man trotzdem den Mund aufmachen sollte.

»Wer Unrecht duldet, stärkt es«, meinte einst Willy Brandt.

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Wie blöd ich mir vorkomme, wenn ich daran denke. Hilf- und ratlos war ich in der Situation und bin es eigentlich immer noch. Erst recht nach den jüngsten Wahlergebnissen frage ich mich immer wieder, ob ich nicht etwas sagen hätte sollen. Aber was? Die Szene im Flugzeug quält mich nicht, aber sie verfolgt mich.

Ich kam aus Valencia. Maschine landet, hält, die Leute springen auf, stellen sich in den Gang, nichts tut sich. Durchsage des Piloten: Wegen fehlenden Bodenpersonals müssten wir noch warten, bis die Gangway angeschlossen werde. Ein bereits im Gang stehender Mann meckert mehrmals: »Alles Lüge.« Höhnisches Lachen hinter ihm, nichts funktioniere mehr in Deutschland, poltert der Hintermann an alle Umstehenden und Umsitzenden gerichtet. Der Vordermann, auch er jetzt lauter: »Alles Lüge. Wir sind nicht zu wenige, wir sind zu viele, deswegen funktioniert nichts mehr. Man müsste ein Drittel rausschmeißen.« Der Hintermann: »Und da wundern sich die Leute, wenn man die Partei mit den drei blauen Buchstaben wählt.«

Was für eine irrwitzige Argumentation, in die sich die beiden verstiegen hatten. Man hätte ihnen gegenüber jetzt ganz sachlich auf den Arbeitskräftemangel in Deutschland verweisen können, darauf, dass Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge sicher nicht mit dem Flieger unterwegs sind und für längere Wartezeiten an Flughäfen verantwortlich gemacht werden dürften. Das hätte man in einem ruhigen Wortwechsel vorbringen und dabei vorbildlich dem entgegenwirken können, was der Soziologe Hartmut Rosa im augenblicklichen gesellschaftlichen Klima bemängelt: Nämlich, dass wir verlernt haben, miteinander zu reden und uns zuzuhören, weil wir uns alle nurmehr anschreien.

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In Gedanken habe ich tatsächlich geschrien: Solche Idioten. Sollen mich in Ruhe lassen mit ihrem AfD-Sprech. Tauscht euch über eure Wut gefälligst leiser aus.

Diskutieren wollte ich jedenfalls nicht. Nicht, dass ich mir einbilde, meine Argumente hätten bei den beiden überhaupt Gehör finden können. Genauso wenig wie ihre bei mir. Aber den Umstehenden hätte ich doch zeigen können, dass ich solche Ansichten nicht teile. Im Grunde ähnelte die Situation ja der vom Video aus dem Sylter Pony-Club: Schockierend war weniger, dass ein paar junge, schlecht erzogene Menschen ihren Spaß an geschmacklosen Nazi-Parolen finden, sondern dass sie das offenbar unwidersprochen vor vielen Umstehenden taten.

Wobei ich natürlich nicht alle AfD-Wähler für Nazis halte – auch wenn erstere immer lauter werden. In den sozialen Medien, in Talkshows, im Bundestag, den Landtagen, auf Podiumsdiskussionen und Marktplätzen wähnen sie eine Mehrheit hinter sich. Gleichzeitig scheinen immer weniger Menschen zu widersprechen.

Ich war unsicher, ob es sich überhaupt geziemt, sich in so ein halböffentliches Gespräch einzumischen

Ich habe auch nichts gesagt. Aus Bequemlichkeit? Aus Feigheit? In jedem Fall war ich unsicher, ob es sich überhaupt geziemt, sich in so ein halböffentliches Gespräch einzumischen. Zu meiner Entschuldigung könnte ich vorbringen, dass ich krank aus Valencia zurückkehrte, eine Erkältung, ich hatte Temperatur, auch ich wollte schnell nach Hause. Eine billige Entschuldigung, mein Kränkeln war nicht der Grund für meine Sprachlosigkeit. Ich wusste schlicht nicht, was ich hätte sagen sollen, ob ich überhaupt etwas hätte sagen müssen.

Wochen später denke ich wieder an die Szene im Flieger und raffe ich mich zu einer E-Mail auf. Ich frage den Philosophen und Jesuiten Michael Bordt, wie man sich verhalten sollte, wenn man solche Gespräche mitbekommt. Bordt ist ein schlauer Kopf, der muss es schließlich wissen. Seine Antwort: »Von dürfen oder müssen in solchen Kontexten zu sprechen, finde ich nicht hilfreich. Wer sollte es mir verbieten? Wer sollte mich zwingen? Es geht nicht darum, was wir dürfen oder nicht, müssen oder nicht, sondern was wir selbstbestimmt für gut und richtig halten – und da spielen eben unglaublich viele Faktoren mit eine Rolle. Und die können nur Sie einschätzen. Wichtig ist, dass man sich der Energien bewusst ist, die in einem Konflikt involviert sind, und dann das tut, was man selbst für gut und richtig hält.«

Aha. Ich soll mich also gut fühlen mit meiner Reaktion. Mit meiner Nicht-Reaktion fühle ich mich jedenfalls nicht gut, soviel steht fest.

Bordt weiter: »Es kann sinnvoll sein, sich einen guten Freund beziehungsweise jemanden, der einen sehr gut kennt, aber nicht in den Konflikt involviert ist, zu schnappen und mit ihm die Frage zu erörtern: Wie hätte ich reagieren sollen, damit ich am Ende stolz auf mich und meine Reaktion gewesen wäre? Aber dazu müssen Sie mit jemanden sprechen, der Sie wirklich gut kennt.«

Okay. Vor meinem inneren Auge taucht eine Freundin auf, die mich sehr gut kennt und mir bei anderen, durchaus drängenderen Problemen stets geraten hat: »Pick your battle.« Das bedeutet so viel wie: Überleg dir genau, mit wem du dich anlegen willst und ob der Konflikt dir wichtig genug erscheint, ihn auch bis zum Ende auszufechten.

Für meine Flugzeugbegegnung kann ich sagen: Nein. Lieber die Klappe halten. Kommt eh nichts bei raus.

Andererseits: Wenn wir alle nur nach unserem eigenen Gefühl gehen und dann zu einem ähnlichen Entschluss kommen wie ich – macht das den voraussichtlich gruseligen Wahlherbst in irgendeiner Weise besser?

Ein Freund sagt: Die Wahlen haben gezeigt, dass Ausgrenzung und Ignorieren der AfD-Wähler nicht funktionieren. Wir müssen die Ängste dieser Leute ernst nehmen und darüber reden. Mit ihnen. Er habe dazu auch keine Lust. Als er sich bei der Fußpflegerin Ansätze einer Verschwörungstheorie anhören musste, ist er einfach nicht mehr hingegangen. Ohne ihr den Grund zu nennen. Genauso feige und bequem wie ich, oder?

Und dann erzählt der Freund noch, welchen Rat er seinen Kindern öfters gibt: Die würden denken, man müsse sich immer dafür oder dagegen entscheiden. Die dritte Möglichkeit, sich nicht gleich zu entscheiden und mit der Spannung der Unentschiedenheit eine Weile zu leben, würden sie meist gar nicht in Erwägung ziehen.

Was das für mich heißen soll? Er meint wohl: Du musst rausfinden, was für dich richtig ist, aber nicht sofort.

Herrje. Viel schlauer hat mich das jetzt nicht gemacht.

Wochen später erzähle ich ein paar Kollegen von meinem Unwohlsein mit mir selbst. Ich stoße auf Verständnis, aber ernte auch heftigen Widerspruch. Einer sagt, ich müsse ertragen, wenn jemand anderer Meinung sei als ich. Auch Andersdenkende hätten im Zweifel das Recht auf freie Meinungsäußerung. Ein anderer meint, das Ganze sei eine Frage von Zivilcourage, aus der Richtung müsse ich die Antwort denken. Auf die Idee bin ich selbst nicht gekommen. Dachte ich doch immer, Zivilcourage sei nur da vonnöten, wo es Schwächere unmittelbar zu schützen gilt.

»Wo die Zivilcourage keine Heimat hat, reicht die Freiheit nicht weit.«

Willy Brandt

Mir fällt Willy Brandt ein, der einst sagte: »Wo die Zivilcourage keine Heimat hat, reicht die Freiheit nicht weit.« Und: »Wer Unrecht duldet, stärkt es.« Wie aktuell Brandts Sätze doch sind. Mir sagen sie: Es muss niemand anwesend sein, damit ihm Unrecht angetan werden kann. Nichtssagen und stumm ohne Widerspruch dabeizusitzen, leistet dem Unrecht Vorschub.

Derzeitiger Stand meiner Überlegungen, sieben Monate nach dem Vorfall, drei Monate nach dem erschreckenden Ergebnis der Europawahl und wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg: Der Wortwechsel im Flugzeug, der mir zuerst kaum erwähnenswert schien und mich dann doch nicht losgelassen hat, verlangt unbedingt nach Gegenrede.

Ich habe mir fest vorgenommen, etwas zu sagen, sobald ich das nächste Mal in eine ähnliche Situation gerate. Hoffentlich werde ich nicht zornig oder genervt reagieren, sondern ruhig bleiben – die Angst der anderen respektieren. Hoffentlich werde ich nicht ironisch, denn Ironie ist leicht misszuverstehen. Ich werde keine längere Diskussion beabsichtigen, aber für ein kurzes Gespräch und im Zweifel auch eine längere Diskussion offen sein.

In der speziellen Situation würde ich unbedingt zeigen wollen, dass ich nicht der Meinung bin, dass die AfD Flieger wieder pünktlich landen lassen kann, und fragen, ob etwas Konkretes dazu in ihrem Wahlprogramm steht. Ja, genau das hätte ich sagen sollen.

Nicht unbedingt schlagkräftig oder witzig, vielleicht nur eine alberne Geste, aber immerhin deutlich genug, um sich und unterschiedliche Werte gezeigt zu haben, mir treu geblieben zu sein.

Soweit mein Plan. Aber durchaus vorstellbar, dass mir wieder nur der Mund offen stehen bleibt, wenn ich erneut hören muss, an was Asylbewerber und Kriegsgeflüchtete so alles schuld sein sollen.