Im New Yorker stieß ich auf einen Artikel über die Höhle von Postojna in Slowenien, eine riesige Tropfsteinkaverne. In ihr leben Grottenolme. Noch vor gar nicht langer Zeit glaubten die Menschen, dort hause ein Drache, denn bei Regenfällen wurden Olme, jeder lang wie ein Männerfuß, aus der Höhle gespült: Die Leute hielten sie für Drachenbabys, Kinder des Ungeheuers im Erdinneren. Tatsächlich sieht ein Grottenolm unheimlich aus. Zwar atmet er durch Lungen, doch besitzt er auch einen violett schimmernden Ring von Kiemen hinter dem Kopf, seine Beine sind zart, seine Augen blind, die Haut ist durchsichtig, »sie lässt«, schreibt der New Yorker, »die inneren Organe sichtbar werden und gibt ihnen ein unheimliches Leuchten«. Grottenolme können zehn Jahre lang ohne Nahrung überleben. Sie werden hundert Jahre alt. Wenig zu essen scheint eine gute Voraussetzung für Langlebigkeit zu sein, Hummer zum Beispiel können auch locker hundert werden und brauchen dabei viel weniger Nahrung als andere Krebse. Helmut Schmidt neigte, wenn ich es recht sehe, ebenfalls nicht zu üppigen Mahlzeiten. Und auch die Flussperlmuschel, die oft mehr als 110 wird, hat eine sehr niedrige Stoffwechselrate.
Nun ein Wort zum Opossum. Diese Beutelrattenart vergreist in unglaublichem Tempo. Dem amerikanischen Gerontologen Steven Austad, der sich mit Alterungsprozessen bei Tieren beschäftigt, ging einmal in Venezuela ein 18 Monate altes Opossumweibchen in die Falle, gesund und munter. Er markierte es. Nur ein paar Monate später sah er es wieder. Nun sah es aus wie hundert: trübe seine Pupillen, arthritisch sein Gang, das Fell kahl und voller Parasiten. Opossums, lernte er, sind mit zwei Jahren uralt und sterben dann bald.
Ist das nicht seltsam: dass die Natur nicht nur unterschiedliche Tierarten schuf, sondern auch ganz verschiedene Möglichkeiten des Alterns? Das Opossum, so Austad, sei ein wehrloses Beutetier, der Sinn seiner Existenz bestehe im Wesentlichen darin, von Pumas oder Kojoten gefressen zu werden. Also lohne es nicht, groß in Prophylaxe gegen körperliche Gebrechen zu investieren; die meisten Opossums würden eh nie zu Senioren.
Der Grottenolm aber lebt in einer Welt, die frei von Feinden ist, ebenso übrigens wie der Nacktmull, ein erstaunliches Tier, das im Untergrund afrikanischer Wüsten lebt und in seinem Äußeren immer wieder als eine Art laufender Penis mit sehr langen Zähnen beschrieben wird. Nacktmulle werden nie krank. Sie kennen keinen Krebs, kein Schmerzempfinden. (Übergieße einen mit kochendem Wasser, er wird sich nicht beklagen!) Sie werden dreißig Jahre alt, sind dabei aber bis zum Ende topfit. Das ist, als wäre ein neunzigjähriger Mensch so regsam wie mit zwanzig. Warum sie überhaupt sterben, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es einfach Gewohnheit.
Übrigens leben Nacktmulle in einem Staat, wie Bienen, also mit einer Königin und kräftigen Wärtern vor den Eingängen ihres Baus, das unterscheidet sie zum Beispiel vom Coruro, einem chilenischen Nagetier, das ebenfalls unter der Erde lebt, in Gruppen von etwa 15 Tieren, aber nicht in straff organisierten Staaten wie die Mulle. Seine Lebenserwartung liegt bei höchstens sechs Jahren.
Ich fasse nun meine heutigen Tipps für Menschen, die an einem langen Leben interessiert sind, zusammen: Lebe, wenn möglich, unterirdisch! Iss wenig! Halte dich von Feinden fern! Sei kein Opfer! Engagiere dich für den Staat, in dem du lebst!
Übrigens findet im Oktober in der kalifornischen Wüste ein Musik-Festival namens Desert Trip statt, ein nie da gewesenes Ereignis. Auf der Bühne werden die Rolling Stones, Bob Dylan, Paul McCartney, Neil Young, Roger Waters und The Who stehen. Kaum einer von denen ist unter siebzig, einige Akteure sollen bereits durchsichtig sein, ja, bei Keith Richards würden die inneren Organe olmartig leuchten, wenn er noch welche hätte.
Bisschen Musik machen kann also auch nicht schaden.
Illustration: Dirk Schmidt