Ein einschneidendes Erlebnis

Unser Autor hat sich in den Finger geschnitten - und muss nun eine Schiene an der Hand tragen. Seine Kolumne schreibt er deswegen dieses Mal mit noch mahnend erhobenerem Zeigefinger als sonst!

Ich hatte einen Test gelesen, Die besten Taschenmesser für Outdoor-Abenteurer. Einer Aufwallung folgend, hatte ich mir den Testsieger bestellt, »ein stabiles, kompaktes Messer, das gut in der Hand liegt«, zehn von zehn Punkten, »das Schneidewunder«. Auch Holzspalten klappe einwandfrei, »es gleitet mühelos durch alle Materialien«.

Dann wollte ich im Garten eine Hängematte befestigen. Der Karabinerhaken, den ich zu verwenden gedachte, war mit einem Plastik-ring an einem Karton befestigt, sehr fest. Durch diesen Kunststoff glitt das Messer nicht, es glitt stattdessen ab und schnitt am Gelenk des linken Zeigefingers vorbei ins Fleisch. Mühelos glitt es durch die Haut.

Das musste genäht werden, sieben Stiche. Die Sehne und der Nerv waren intakt geblieben.

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»Ich habe dir doch gesagt, du sollst kein Werkzeug anfassen«, sagte Bruno, mein alter Freund.

»Was wolltest du bloß mit dem Scheißmesser?«, fragte Paola, meine Frau.

»Hatte ich mir halt schön vorgestellt, immer ein Taschenmesser dabei, ein Mann und sein Messer«, sagte ich.

Nun steckt der linke Zeigefinger seit zehn Tagen in einer Schiene, er ist damit ungefähr zehn Mal so groß wie normal, unübersehbar. Irgendwie bin ich froh, dass es nicht den Mittelfinger getroffen hat, denn es gibt wirklich niemanden, der diesen Finger übersieht, zumal er mit azurblauem Verbandsmaterial verpackt ist. Rot hätte es auch gegeben. Das schien mir übertrieben aufmerksamkeits-heischend.

»In Blau ist es ein Sechzgerfinger«, sagte Bruno, der ein Freund des TSV 1860 ist. »Besser als ein Bayernfinger.«

Jeder fragt mich, was ich mit dem Finger gemacht habe. Ich erzähle es auch jedem. Genau genommen gibt es in München niemanden, dem ich es noch nicht erzählt hätte. Ein erigierter, azurblau verpackter Zeigefinger von der Größe einer Bierflasche macht dich automatisch zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft.

»Huuuuuh«, sagen die Leute, und manche zischen dann noch leise wimmernd, »sssss … haaaah …«

Schreiben ist nicht ganz einfach, ich tippe sonst immer mit beiden Zeigefingern, der linke muss nun durch den linken Mittelfinger vertreten werden, doch der ist ungeübt. Oft erwischt er, vom Bierflaschenfinger verdeckt, die Feststelltaste für die Großbuchstaben, UND DANN MUSS MAN ALLES WIEDER LÖSCHEN. Mühsam. Ein Autor sollte mit seinen Texten den Finger in die Wunden einer Gesellschaft legen, liest man manchmal. Ich habe statt­dessen die Wunde in den Finger gelegt.

Andererseits ist es erstaunlich, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe. Anfangs war ich nicht mal in der Lage, mir ein Hemd alleine anzuziehen, inzwischen kann ich mir mit der Fingerschiene schon den Rücken an normalerweise nicht erreichbaren Stellen kratzen. In Comics ist oft eine Hand von Piraten­kapitänen durch einen Metallhaken ersetzt, irgendwie ist das vergleichbar. Schon kam mir der Gedanke, man könnte vorne an der Schiene ein Ge­winde befestigen und darauf, je nach Bedarf, einen Kochlöffel schrauben, einen Hammer, eine Kaffeetasse.

Oder ein Taschenmesser.

Langfristig könnte man das Blau durch Leopardenfell ersetzen, aber was heißt langfristig? Morgen werden die Fäden gezogen, dann wird der Finger wieder zum Vorschein kommen. Wird er mir nicht fehlen, der Riesenfinger?

Im Grunde ist er für einen Kolumnisten eine Art Berufsgerät: der mahnend erhobene Zeige­finger. Wie ein Polizist zur Arbeit die Uniform anzieht, ein Arzt in seinen Kittel schlüpft und ein Bauarbeiter seinen Helm aufsetzt, so werde ich mir in Zukunft den großen Mahnefinger auf die Hand schnallen, wenn es ans Schreiben geht.

Wie konnte ich bisher überhaupt leben ohne meine Fingerschiene, meinen schönen blauen Schienenfinger?