Man kann nicht behaupten, dass Nicolas mit seinen neun Jahren noch besonders gutgläubig wäre. Wenn der Moderator der Sportschau am Samstagabend mit neutralem Gesicht das Spitzenspiel ankündigt, dessen Ergebnis ja völlig offen sei, schaut er mich befremdet an und sagt: »Das ist doch alles gespielt! Der weiß auch längst, wie es am Nachmittag ausgegangen ist.« Und als ich neulich im Restaurant die Internet-Verbindung am iPhone deaktiviert habe, um uns einmal die Debatte zu ersparen, wie lange er Clash of Clans spielen dürfe, glaubte er mein Märchen, hier sei der Empfang leider schlecht, keine Sekunde: Er nahm unter einem Vorwand das Handy, klickte auf »Einstellungen« und stellte unter »Mobile Daten« mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Verbindung wieder her. Er sah mich dabei mit einem Blick an, der besagte: »Glaubst du wirklich, ich lass mich noch so leicht an der Nase herumführen?«
Dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie an der Oberfläche scheinen, hat mein Sohn also begriffen. In einem Punkt aber hat er sich bis heute eine magische Weltsicht bewahrt: Er glaubt auch in der vierten Klasse noch an das Christkind. Seit ein paar Tagen schreibt er wieder seinen Wunschzettel, und ganz unbefangen wollte er wissen, in welcher Nacht er ihn denn ans Fensterbett in der Küche legen sollte. Auch auf den Spaziergang, den wir beide seit Jahren am Heiligen Abend unternehmen, kurz bevor im Haus der Großmutter »das Christkind kommt«, freue er sich schon sehr, wie er neulich vor dem Schlafengehen gesagt hat. Diese halbe Stunde zwischen fünf und halb sechs, wenn wir hinter den Fenstern des Viertels nach erleuchteten Weihnachtsbäumen suchen, während bei uns die Geschenke vom Speicher ins Wohnzimmer getragen werden, gehört zu den schönsten Momenten im ganzen Jahr.
Ich kann kaum glauben, dass mein Sohn, dessen Wortschatz inzwischen dem eines Teenagers ähnelt, bestehend aus »übelst«, »geil« und »Alter« (betont auf der zweiten Silbe), in diesen Fragen noch so kindlich geblieben ist. In seiner Klasse sind sicher längst diejenigen in der Überzahl, die das Ganze lauthals als Elterntrick entlarven, und ich erwarte fast täglich den Moment, in dem er wütend von der Schule nach Hause kommt und uns vorwirft, dass wir ihn jahrelang belogen hätten.
Manchmal denke ich jetzt, dass ich diesem Moment zuvorkommen sollte, und versuche mich an seinen Wissensstand heranzutasten. »Wie ist das denn eigentlich in deiner Klasse?«, habe ich ihn neulich möglichst unverfänglich gefragt. »Glauben da die meisten ans Christkind? Oder gibt es welche, die sagen, das gibt es ja gar nicht?« Wie immer bei Unterhaltungen über die Schule hat er nur irgendwas halb Abwesendes gemurmelt, längst mit einem Comic oder seiner DS-Konsole beschäftigt. Einen Moment lang habe ich überlegt, ihm in einem Akt der Aufklärung alles zu beichten. Es erschien mir plötzlich würdelos, einem neunjährigen Jungen, mit dem man Gespräche über das Weltgeschehen führen kann, der sich für chemische Experimente und Geschichte interessiert, weiterhin diese Märchen aufzubinden. Aber dann habe ich es nicht getan, vielleicht auch aus Sorge, dass ein solches Geständnis wirklich einen Vertrauensbruch zwischen uns herbeiführen könnte.
Sollte es Eltern also tatsächlich beschäftigen, ob ihr Kind noch an das Christkind glaubt? Es gibt einen einfachen Trick, um dieser Frage jede Dringlichkeit zu nehmen. Man muss sich einfach nur selbst zu erinnern versuchen, wann und unter welchen Umständen man als Kind aufgehört hat, dem Christkind oder dem Osterhasen Bedeutung zu schenken. Dieser Versuch misslingt nämlich. Es gibt im Rückblick keine jähe Schwelle zwischen der magischen und der vernünftigen Erklärung der Dinge: Dass die Geschenke von den Eltern kommen, war eines Morgens nach dem Aufwachen einfach sonnenklar, und diese Erkenntnis verband sich nicht mit einem Gefühl der Enttäuschung oder des Betrogenwerdens, sondern wurde vermutlich mit einer Art Kopfschütteln abgetan: »Wie blöd konnte ich eigentlich sein?« Aus dem Kinderglauben war man plötzlich herausgewachsen wie aus einem zu kleinen Pullover. Nicolas zögert diesen Moment einfach noch ein bisschen hinaus.
Oder ist alles doch ganz anders? Manchmal habe ich den Verdacht, dass er längst alles weiß und nur seinen Eltern zuliebe den Glauben an das Christkind aufrechterhält. Vielleicht steht er heute, am Nikolaustag, mit seinen Klassenkameraden im Pausenhof und unterhält sich über den gefüllten Stiefel, den er in der Früh mit strahlenden Augen vor der Wohnungstür gefunden hat: »Alter, übelst geil, mein Vater denkt echt noch, dass ich glaube, der Nikolaus hätte die Sachen gebracht. Aber sie freuen sich halt immer so, wenn ich ganz überrascht bin, und deshalb spiele ich mit. Die Geschenke sind ja meistens auch cool.« Könnte es sein, dass er sogar unser kleines Ritual des Spaziergangs am Heiligen Abend nur mir zuliebe fortführt? Vielleicht gibt es in unserer Familie zur Weihnachtszeit einen doppelten Betrug: Sowohl die Eltern als auch das Kind halten den überkommenen Zauber aufrecht, um die andere Seite zu schonen.
Iillustration: Daniel Frost