In der letzten Märzwoche, nachdem die New York Times Hillary Clintons Chancen auf einen Sieg gegen Barack Obama bei fünf Prozent angesiedelt hatte und namhafte Demokraten sie aufforderten, aus dem Rennen auszusteigen, schickte die Senatorin ihre Tochter für drei Tage nach Indiana. Dort finden am 6. Mai die Vorwahlen statt, Obama liegt in dem für die Vorwahlen wichtigen Staat laut Umfragen knapp in Führung – also lautete Chelseas Auftrag, die Universitäten abzuklappern, um in Frage-Antwort-Runden junge Wähler von Hillarys Qualitäten zu überzeugen.
Da stand Chelsea im überfüllten Hörsaal der Butler University von Indianapolis, trug ihr graues Lieblingsjackett, einen schwarzen Rollkragenpullover, enge Jeans. Die langen Haare fielen ihr glatt und glänzend auf die Schultern: eine attraktive, intelligente, sympathische Frau. Sie stand aufrecht in der Mitte des Saales und schien sich geradezu auf die Fragen der Studenten zu freuen. Gesundheitsreform? Völkermord in Darfur? Klimakatastrophe? Verblüffend, wie viel verständlicher und sachkundiger als ihre Mutter Chelsea über komplexe Themen reden kann. Ach, stünde doch bloß Clintons Tochter zur Wahl, werden viele Zuhörer im Butler College gedacht haben. Niemand würde von Obama sprechen.
Dann stellte ein Student eine Frage, mit der er Chelsea offenbar aus dem Konzept bringen wollte. Er heißt Evan Strange und besaß die Unverfrorenheit, sich bei Chelsea nach der Lewinsky-Affäre zu erkundigen: »Bist du damit zufrieden, wie deine Mutter sich verhalten hat während des Skandals?« Chelseas Bewegungen froren für einen Sekundenbruchteil ein, die ohnehin großen Augen weiteten sich noch ein wenig mehr. Doch schneller, als eine Fliege der Klatsche ausweicht, bekam sie die Situation unter Kontrolle. Eine Pause, ein ungläubiges Lächeln, dann antwortete Chelsea: »Wow! Du bist der Erste, der mich so was fragt in, na ja, ich schätze siebzig Colleges, die ich in den letzten Monaten besucht habe. Und ich würde sagen, dich geht es überhaupt nichts an, was ich über die Geschichte denke.« Applaus brandet auf, Chelsea lächelt; es ist spürbar, wie ihr die Sympathien zufliegen. Dann noch eine letzte Frage zum Erziehungssys-tem – beim Abschied wünscht sich Chelsea möglichst viele Stimmen »für meine Mom«. Ein gelungener Auftritt – wie die siebzig anderen zuvor. Und vielleicht kann Chelsea bald von sich sagen: »Gestatten, Clinton, Tochter zweier US-Präsidenten.«
Dass ihre Tochter Hillarys wirksamste Waffe im verbissenen Kampf um die demokratische Nominierung werden würde, war noch Mitte Januar undenkbar gewesen. Die Senatorin hatte dank einer künstlichen Heulattacke in letzter Sekunde New Hampshire für sich entschieden und ihr Ehemann Oba-mas Triumph in South Carolina mit rassistischen Bemerkungen heruntergespielt: »Jesse Jackson hat da auch gewonnen.« Doch irgendwann im Laufe des Januars begann Hillarys verkrampfte Arroganz jeden in ihrer Umgebung zu nerven. Die Medien, die Wähler und demokratische Politiker liefen über zu Obama – Hillarys Wahlkampfmanager gerieten in Panik: weil ihr Widersacher die Stimmen Hunderttausender Schüler und Studenten für sich gewinnen konnte.
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Nun lautet die offizielle Erklärung, dass es Chelseas Wille war, im Januar unbezahlten Urlaub von ihrem 200 000-Dollar-Job als Analystin bei dem New Yorker Hedge-Fonds Avenue Capital Group einzureichen, um junge Menschen von den Qualitäten ihrer Mutter zu überzeugen. Ob diese Version stimmt oder ob Chelsea von Hillarys Beratern gedrängt wurde, wie man vermuten könnte, ist letztlich nicht wichtig. Chelseas Eintritt in den Wahlkampf bedeutet einen Wendepunkt in ihrem Leben – sie feierte im Februar ihren 28. Geburtstag, in diesem Alter meldete sich auch ihr Vater erstmals politisch zu Wort. Und mit jedem von Chelseas Auftritten verstärkt sich der Eindruck, da habe ein politisches Talent die Bühne betreten, von dem die Welt noch lang hören wird.
Jacqueline Kennedy Onassis gab den Clintons zu Bills Amtsantritt 1993 den Rat: »Je gründlicher ein Kind von der Öffentlichkeit abgeschottet wird, desto unbeschwerter kann es im Weißen Haus aufwachsen.« Auch wenn das nicht zusammenzupassen scheint: Weißes Haus und unbeschwerte Kindheit. Die Clintons aber schützten die Privatsphäre ihrer damals zwölfjährigen Tochter mit Inbrunst. Und die Journalisten hielten sich an das ungeschriebene Gesetz, den Teenager zu ignorieren – selbst als die Eltern auf dem Höhepunkt der Lewinsky-Affäre zum Abschuss freigegeben waren. Bei aller Rücksichtnahme – natürlich führte sie ein Leben wie unter dem Brennglas, beobachtet wie Jim Carey in der Truman Show.
Bis heute gestattete sie keinem Reporter ein Interview (mit Ausnahme einer Journalistin von Women’s Wear Daily, die 2003 ein paar Fragen zur aktuellen Versace-Kollektion stellen durfte). Was aus den Klatschseiten bekannt ist über ihr Privatleben, deutet darauf hin, dass Chelsea sich bemüht, ihr Leben so durchschnittlich zu gestalten, wie es einer »First Daughter« möglich ist: In Stanford studierte sie Geschichte und in Oxford internationale Beziehungen. In New York arbeitete Chelsea als Beraterin für McKinsey mit Spezialgebiet Gesundheitsindustrie, bevor sie zur Avenue Capital Group wechselte, deren Chef Marc Lasry ein großzügiger Geldgeber der Clintons ist. Sie liebte ein paar wohlerzogene Jungs und ist derzeit mit dem Politikersohn Mark Mezvinsky liiert, der ebenfalls an der Wall Street arbeitet.
Kollegen und Kommilitonen reagieren immer gleich, wenn man sie nach Chelsea fragt: Sie wollen anonym bleiben und beschreiben eine beliebte junge Frau mit überragender Intelligenz und gar nicht so üblem Humor. »Sie bemühte sich, nicht aufzufallen«, sagt eine Studentin aus Stanford. Ihr ehemaliger Boss bei McKinsey, D. Ronald Daniel, erklärte in der New York Times: »Das Bewerbungsgespräch mit ihr war eher eine gepflegte Unterhaltung. Das macht sie zu einer guten Beraterin, sie kann Fragen stellen und zuhören.« Auch um ihre Kollegen nicht zu nerven, verzichtete Chelsea auf spektakuläre Auftritte. Bis zum Januar.
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Verblüffend, wie ausgekocht sie brenzlige Situationen meistert: An der University of Wisconsin kam es zu einer Auseinandersetzung, die ein Reporter des New York Magazine verfolgte. Student: »Hat deine Mutter sich jemals geschämt, für einen Krieg gestimmt zu haben, der eine Million Iraker das Leben gekostet hat?« Chelsea, mit ruhigem Tonfall: »Sie stimmte dafür, die Waffeninspektoren ins Land zu lassen. Das wollte die UN. Das wollten Colin Powell und unser Militär. Sie gab ihre Stimme ab auf der Grundlage der besten verfügbaren Informationen. Vielleicht wusstest du damals mehr, das wäre sehr beeindruckend. « Student, erregt: »Es war eine Abstimmung für die Invasion des Irak.« Chelsea, noch gelassener: »Da sind wir unterschiedlicher Auffassung. Lies das Transkript der Debatte … ich bin sehr stolz, dass meine Mutter als Erste das Pentagon aufforderte, Pläne für das Ende des Krieges vorzulegen.«
Während Chelsea redete, verließ der Student wütend den Hörsaal. Sie scheint so zu funktionieren, wie ihr Vater es beschrieben hat: »Den Charakter hat sie von Hillary und den Willen von mir.« Oder andersherum, das macht keinen Unterschied.
Eine Million Psychologen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie die Lewinsky-Affäre und eine Pubertät im Weißen Haus Chelsea geprägt haben. Alle Ferndiagnosen schildern denselben Befund: Irgendwas muss hängen geblieben sein; was genau, ist nicht auszumachen. Dank Hillarys Memoiren ist bekannt, wie schmerzhaft die Momente waren, als der »Commander-In-Chief« im Familienkreis beichtete. Chelsea soll fast so bitterlich geweint haben wie Bill. Tage später ging sie zwischen ihren Eltern händchenhaltend zur Pressekonferenz, als sei es ihr Job, die beiden zusammenzuhalten.
Den Clintons war das Wohlbefinden ihres einzigen Kindes wohl immer so wichtig wie die Bewahrung ihrer Macht. Sie hatten ein warnendes Beispiel vor Augen: Amy Carter, Jimmy Carters Tochter, die als Neunjährige ins Weiße Haus einzog: ein Maskottchen, das auf Staatsempfängen lustige Bemerkungen abgab. Später litt Amy unter Drogenproblemen und wurde auf Demons-trationen mehrmals festgenommen. Chelsea sollte einen anderen Weg einschlagen.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie Chelsea Clinton die grobe Seite des Lebens als Präsidententochter kennenlernte.
Nachdem sie in Little Rock, Arkansas, eine öffentliche Schule besucht hatte, schickte ihre Mutter sie nach dem Umzug nach Washington auf die elitäre Privatschule Sidwell Friends. Dort war sie umgeben von anderen Politikerkindern, die ebenfalls 24 Stunden am Tag von Agenten des Secret Service bewacht wurden. So blieb es Chelsea erspart, sich als Außenseiterin zu fühlen. Doch die grobe Seite des Lebens als Präsidententochter lernte sie bald kennen: Komiker machten sich lustig über Chelseas seltsames Aussehen, ihre Locken, die Zahnspange und ihre Hautprobleme. John McCain, vielleicht Amerikas nächster Präsident, gab 1998 bei einem offiziellen Abendessen diesen Klassiker zum Besten: »Warum ist Chelsea Clinton so hässlich? Weil Janet Reno ihr Vater ist.« Reno hieß die Justizministerin der Regierung Clinton.
Mit 18 Jahren zog Chelsea nach Stanford in Kalifornien. Die Agenten vom Secret
Service verkleideten sich als Studenten und blieben immer in ihrer Nähe – selbst wenn sie mal mit einem jungen Mann zum Dinner ging. 2001 in Oxford verstärkten die Sicherheitskräfte ihr Aufgebot: Chelsea lebte nun in einem Studentenzimmer mit schusssicheren Fenstern, verstärkter Stahltür, bombensicheren Wänden und hatte stets Aufpasser in unmittelbarer Nähe.
Bei den Londoner Modenschauen im Frühling 2002 saß sie unerwartet in der ersten Reihe mit ihren neuen Freundinnen Madonna und Gwyneth Paltrow und sah aus wie eine elegante Frau: die Haare geglättet, die Garderobe modernisiert. Chelsea gab wie üblich keine Erklärungen ab. Aber endlich passierte auch ihr mal ein Fauxpas, der die Paparazzi begeisterte: als Chelsea, von einer Party kommend, sturzbetrunken einen Londoner Gehweg entlangtorkelte, bis ihr damaliger Freund Ian Klaus sie in ein Taxi bugsierte.
Seitdem ist Chelsea nicht wieder fotografiert worden unter Umständen, die ihr Image als perfekte Tochter gefährden könnten. Um sich eine Politikkarriere nicht zu verbauen, wird sie diesen Kurs beibehalten.
Anfang April wurden die Vorwürfe gegen Hillary Clinton immer heftiger. Sie verfolge nur noch das Ziel, Obama so stark zu beschädigen, dass McCain nächster Präsident wird und sie selbst 2012 wieder antreten kann. Hillary sagt, sie werde notfalls bis August um den letzten Superdelegierten kämpfen. Man kann sich vorstellen, wie die republikanischen Wahlkampfstrategen bereits die Champagnerkorken knallen lassen.
In der University of Wisconsin fragte eine Frau, ob es nicht unethisch sei, dass Chelsea junge Superdelegierte anruft, um sie für Hillary zu vereinnahmen. »Meine Dame«, beginnt Chelsea höflich, um dann zuzuschlagen: »Ich spreche mit allen Wählern. Mit jedem, der mit mir sprechen will.«
»Es ist unethisch«, wiederholt die Frau.
»Nein. Ich bin so verdammt stolz auf meine Mutter. Ich hoffe, Ihre Kinder sind genauso stolz auf Sie«, Applaus brandet auf, »wie ich auf meine Eltern.«
Eine Tochter ganz wie die Mutter, ganz wie der Vater.