Morgen, Kinder, wird’s nichts geben

Corona hat viele Eltern dazu gezwungen, Versprechen zu geben, die sie nun nicht halten können. Über die Schwierigkeit, in der Pandemie einen Kindergeburtstag zu feiern.

Für Partys gilt: Beste Freunde sind nicht alles, aber alles ist nichts ohne sie.

Es war im Herbst vor Corona, als mein damals dreijähriger Sohn zum ersten Mal in seinem Leben auf eine Geburtstagsparty eingeladen war. Ich war nicht dabei, aber nach allem, was er mir erzählte, muss es ein rauschendes Fest gewesen sein, so wie er es aus den Jan und Julia-Büchern kannte. Luftballons und Girlanden, tobende Kinder in einem sonnendurchfluteten Garten, Pommes und Süßkram. Als ich ihn wieder in Empfang nahm, hatte er verschwitzte Haare, dreckige Knie und leuchtende Augen. Er sagte: »So will ich auch Geburtstag feiern!« – »Kommt nicht infrage«, meinte ich, »deiner wird noch viel toller!« Was man halt so leichtfertig dahinsagt, um sein väterliches Ego zu streicheln.

Auf dem Heimweg schmiedeten wir Pläne, was gespielt, welche Kuchen aufgefahren würden, vor allem aber wen er alles einladen würde. Die Liste wurde in den Tagen darauf länger und länger. Gastgeberstolz kann eine süße Droge sein. Regelmäßig fragte er nach, wann wir denn endlich die Einladungen schreiben würden. Es störte ihn kein bisschen, dass es noch sechs Monate waren bis zu seinem großen Tag.

Der Winter kam. Ich fing an, im Internet nach einem Kinderfahrrad zu recherchieren. Was ist das schönste Fest ohne das passende Knallergeschenk? Ein ers­ter Anflug von Wettbewerbsdruck machte sich bemerkbar. Kindergeburtstage sind nämlich nicht mehr das, was sie mal waren. Als ich Kind war, mussten nur die Kerzen auf dem Kuchen brennen und der Kakao heiß sein, und alle waren glücklich. Heutzutage geht es praktisch nicht unter einem Hüpfburg-Happening mit Motto, Büffet, Animationsprogramm und Gäste-Tütchen. Irgendwo dazwischen wollte ich landen. Da trafen die ersten Meldungen aus Wuhan ein.

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Nichts deutete damals darauf hin, dass die Welt, wie mein Sohn und ich sie kannten, da schon am Kippen war, dass eine Zeitenwende im Gange war, so tiefgreifend, dass unsere Kinder ihren Kindern und Enkelkindern dereinst davon erzählen werden. Für mich war das neue Virus da noch ein Problem der Chinesen, so wie SARS ja auch immer ein Problem der Chinesen geblieben war.

Dann gab es den ersten großen Ausbruch in Tirschenreuth, bald danach den ersten Toten in München, in Italien spielten sich verstörende Szenen ab. Der erste Lockdown kam. In Katastrophenfilmen gibt es den Wendepunkt, der die Welt in ein Davor und Danach teilt. Es ist der Augenblick, in dem das übermächtige Bedrohungsszenario offenbar wird. Dieser Moment war für mich nicht, als mir ein Taxifahrer mit Maske meinen Rechner in die Wohnung brachte, die fortan mein Büro sein würde, nicht die Schließung des Kindergartens, auch nicht die Ausgangsbeschränkungen, die ich als einmalige, kollektive Sonderübung empfand, nach der man endlich wieder zur Tagesordnung übergeht. Der Moment war, als wir am 17. März 2020 vor unserem mit Vorhängeschloss und Absperrband abgeriegelten Spielplatz standen und ich in das fassungslose, fragende Gesicht meines Sohns sah. Spielen verboten. Da waren es noch vier Wochen bis zu seinem vierten Geburtstag. Und mir dämmerte, dass ich da ein Problem hatte.

Wer sagt es ihm? Und vor allem, wie?

Es hatte sich ausgefeiert im Lockdown. Sicher, es gibt Schlimmeres als einen Kindergeburtstag ohne Freunde. Der Bundesligafußball rollt schließlich auch ganz geschmeidig vor leeren Rängen. Und was ist all dieses Gejammer, verglichen mit dem Horror, der sich täglich auf den Intensivstationen abspielt? Aber machen Sie das mal einem Dreijährigen klar, der bereits den ganzen Kindergarten und die halbe Nachbarschaft einge­laden hat und von Eierlaufen und Topfschlagen träumt.

Seinen fünften Geburtstag würden wir fünffach nachfeiern, sagten wir

Zu meiner Verwunderung war es dann einfach. Kinder merken schnell, wenn es ernst wird. Wir würden das mit den Gästen nachholen, versicherten wir ihm, und zwar nicht in ein paar Wochen, sondern nächstes Jahr, wenn alles vorbei ist.

So hatten wir uns das ja alle ausgemalt damals: 2020 wird einfach um ein Jahr verschoben und mit ihm der Karneval, die Fußball-EM, Olympia und, wenn es sein muss, auch Kindergeburtstage. Seinen fünften würden wir dann doppelt und dreifach, nein, fünffach nachfeiern, versprachen wir. Ehrenwort! Damit dachte ich, Planungssicherheit erlangt zu haben. Heute weiß ich: Gib einem Kind nie ein Versprechen, von dem du nicht weißt, dass du es halten kannst.

Wir feierten im kleinsten Familienkreis. Mit Videoschalte zur Oma. Ein paar Tage später wurde seine große Schwester 13. Zwei Schulkameradinnen mit Mundschutz überreichten ihr an der Haustürschwelle einen Kuchen. Sie unterhielten sich kurz in gebotenem Sicherheitsabstand. Es war rührend, aber auch sehr traurig.

Es wird gerade viel darüber diskutiert, wie Kinder disruptive Krisen wahrnehmen, was diese mit ihnen machen. Mein Vater musste als Fünfjähriger mit seiner Familie vor den an­rückenden Russen fliehen, Haus und Hof verlassen, er sah Soldaten am Galgen hängen. Keine Ahnung, wie das seine Persönlichkeit geprägt hat, vergessen hat er es nie.

Ich kann da nicht mitreden. Ich bin in eine Zeit hineingeboren worden, die kaum verschattet war. Die einzige Krise, an die ich mich erinnere, war die Ölkrise 1973, da war ich so alt wie mein Sohn jetzt. Damals wurden ebenfalls Freiheiten eingeschränkt: Fahrverbote an vier Sonntagen im Winter. Das Erdöl gehe bald aus, hieß es als Begründung. In Wirklichkeit war nur ein Preiskrieg ausgebrochen zwischen den Erdöl fördernden Ländern. Ich glaube, mir war der sogenannte Ölschock damals ziemlich egal. Es gibt Fotos, wie ich mit meinem Vater begeistert über die leer gefegte Autobahn spaziere, die im Wald hinter unserer Siedlung verlief.

Corona ist anders, gefräßiger, fundamentaler. Körperlich kann das Virus meinem Sohn nicht viel anhaben, sagt die Medizin, aber wie sieht es mit seiner Seele aus? Psychologen berichten von Kindern, die während der Pandemie Zwangsgedanken entwickeln oder depressiv werden. Spürt er die Angst der Erwachsenen, ihre Sorgen, wenn sie wieder über Inzidenzwerte fachsimpeln? Hat sein Grundvertrauen in die Berechenbarkeit der Zukunft gelitten? Kann er sich ein Leben ohne Pandemie überhaupt noch vorstellen? Kann das irgendwer?

Eine Zeitung titelte: »So krank macht der Lockdown unsere Kinder – Ob sie uns das jemals verzeihen werden?« Für meinen Sohn ist das Virus vor allem ein sehr unangenehmer Spielverderber. »Ich hasse den Corona«, sagte er anfangs oft. Oder: »Wann geht der Corona endlich wieder weg?« An was wird er sich später erinnern? Vielleicht an die Oma, die mit Maske auf dem Sofa saß und Bücher vorlas, dann monatelang gar nicht mehr kam. Den Trotzanfall, weil im Drogeriemarkt der Spender mit Desinfektionsmittel leer war. Die 200 Meter lange Schlange vor dem Freibad, in die wir uns in der Gluthitze eingereiht hatten, als es im Juni endlich wieder aufmachte. Und den familiären Nervenzusammenbruch zwanzig Minuten später, als ich an der Kasse merkte, dass ich für den falschen Tag reserviert hatte. (Ein gütiger Securitymann erbarmte sich und winkte uns trotzdem durch.) Wie schön wäre es, wenn er sich wenigstens an einen besonderen Geburtstag erinnern würde.

Ich habe so eine Sehnsucht nach keimetauschender Ausgelassenheit

Mein Sohn scheint sich inzwischen mit unserem heruntergedimmten Leben auf Sichtflug abgefunden zu haben. Neulich im verlängerten zweiten Lockdown legte er die Infek­tionskurve, die ich jeden Morgen in der Zeitung studiere, mit Bauklötzen auf dem Wohnzimmerteppich aus. Sie zeigte gerade steil nach unten, doch die Aufbruchstimmung ist längst verflogen. Jeder neue Winkelzug der Virus-Mutanten erinnert mich an mein Versprechen. Werde ich es in der dritten Welle wieder brechen müssen? Eine Virologin hat kürzlich in einem Interview das Jahr 2021 vorsorglich schon mal abgeschrieben. Meine Taktik, auf Zeit zu spielen, entpuppte sich mehr und mehr als schlechte Wette auf die Zukunft.

Von allen Anlässen zum Feiern ist mir der Geburtstag der heiligste. Nicht Weihnachten, nicht Ostern, nicht der Valentinstag. Er versöhnt uns mit dem Grund des Daseins auf der Lebensbühne. Er ist eine Feier des Lebens, und so sollte er auch zelebriert werden – mit Publikum und Applaus. Vor allem für Kinder. Natürlich, es gäbe Optionen. Augen zu und durch, im Kindergarten herrscht schließlich auch kein Abstandsgebot. Man muss jedoch nicht Karl Lauterbach heißen, um es keine gute Idee zu finden, zehn Kinder aus zehn Haushalten in der jetzigen Lage durch die Wohnung toben zu lassen. Man könnte seine Freunde per Zoom dazuschalten, aber das ist nicht das Gleiche. In verzweifelten Momenten ertappe ich mich bei der Vorstellung, alle eingeladenen Kinder vorher an der Tür »freizutesten«. Wäre eine Möglichkeit, setzt aber irgendwie den falschen Ton. Dabei habe ich nur so eine unbändige Sehnsucht nach unschuldiger, schokoladenverschmierter, keimetauschender Ausgelassenheit.

Mein Sohn, das ist das Bittere, hat Corona ganz verinnerlicht. Schon lange fragt er nicht mehr, wann wir wieder in den Urlaub fahren oder ob seine Freunde kommen dürfen. Zu oft lautete die Antwort, keine Ahnung, vielleicht ein andermal. An der Supermarktkasse ermahnt er mich manchmal, den Sicherheitsabstand einzuhalten. Er wundert sich nicht mehr darüber, dass im Kindergarten nicht mehr gesungen wird, wenn einer Geburtstag hat (Aerosole!). Seinen bevorstehenden eigenen hat er lange nicht mehr angesprochen. Mal sehen, was die Kurve sagt. Noch habe ich drei Wochen.