Macht doch, was ihr wollt!

Früher konnte man die jungen Leute wenigstens noch einordnen: Sie waren Hippies, Popper, Punker oder Raver. Heute fragt man sich: Warum gibt es keine großen Jugendbewegungen mehr?

Eigenartig. Seit Monaten reden alle von 1968, von der Energie, die damals, vor vierzig Jahren, die Jugend der halben Welt erfasste. Und auch an später erinnern sich viele gern, an Punk oder an die Popperzeiten der Achtziger. Und an Techno, die großen Raves der Neunzigerjahre, die Aufregung, die zeitweise eine ganze Altersgruppe befallen hat. Aber heute? Was ist heute? Gibt es eine große Strömung, die eine ganze Generation verbinden würde?

Es gibt einzelne große Szenen, Hip-Hop zum Beispiel (auch schon mehr als zwanzig Jahre alt), es gibt die Alternativen, schwarz gewandete Gothic-Fans, es gibt Jugendliche, die mit Neonazi-Unsinn sympathisieren. Ein paar bunte Haare hier, H&M-Shirts da, zu weite Hosen dort – aber was fehlt, ist die eine große Idee, die Mode oder Haltung, die repräsentativ wäre für das Jahrzehnt, in dem wir leben und das in zwei Jahren auch schon wieder zu Ende geht.

Der Ölkonzern Shell lässt alle paar Jahre eine umfassende Studie über die Jugend durchführen. Da wird alles ausgewertet, was die Statistiken hergeben, von Ausbildung bis Religion, von Nachtleben bis zur politischen Einstellung. Die letzte Shell-Studie ist schon etwas über ein Jahr alt, nach über 500 Seiten befinden die Fachleute darin, man habe es hier und heute mit einer »pragmatischen Generation« zu tun. Das ist ungefähr so prägnant, als würde man die Generation als »existierend« bezeichnen – aber sehr viel mehr Verbindendes scheint es nun mal nicht zu geben. Die Shell-Leute stellen fest, dass »übergreifende gesellschaftliche Reformziele oder aber Ideologien nur relativ schwache Bindungswirkung entfalten«.

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Es ist mehr als 25 Jahre her, da war dem Spiegel das Thema Jugendkultur mal eine Titelseite wert. »Jugend-Stil 82« stand da, »die neue Boheme«, es ging um die aufkommende Punk- und New-Wave-Welle, »eine neue, schrille Jugend-Subkultur«, eine »aufregende Zeit für Action und Abenteuer«. Und: »Die narzisstischen Selbstdarsteller im aufblühenden Boheme-Nachtleben der Großstädte haben für Politik nur noch Verachtung übrig.«

Das klingt heute lustig und war damals sauber übertrieben. Die großen Jugendbewegungen der Vergangenheit waren dennoch – selbst, wenn sie nur Teile der jeweiligen Generationen umfassten – so breitenwirksam und so prägnant, dass sie zumindest im Rückblick als repräsentativ für ganze Generationen gelten können.
Und heute? Heute konstatieren die Herausgeber der Shell-Studie ratlos »ein Auseinanderdriften jugendlicher Lebenswelten«. Was ist da los?

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Professor und eine Schulklasse auf der Suche nach den Jugendbewegungen von heute.

I. Der Forscher
Beginnen wir die Suche nach Antworten bei einem Professor, der als der beste unter den Jugendforschern gilt: Der Soziologe Ronald Hitzler von der Technischen Universität Dortmund ist schon in den Neunzigerjahren selbst raven gegangen, um schwitzend zu erfahren, wie die Objekte seiner Forschung feiern, denken, fühlen. Was es so an einzelnen Jugendkulturen, an kleinen Szenen und Moden gibt, sammelt er akribisch auf der Internetseite Jugendszenen.com.

Hitzler bestätigt die Beobachtung: »Jugendbewegungen sind heute genauso disparat wie das Fernsehprogramm, das Warenangebot, die Sinnoptionen, die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten; wie überhaupt nahezu alles, was in unserer Kultur so bereitgestellt wird.« Aber irgendwas muss es doch geben, was die Gruppe der 15- bis 30-Jährigen verbindet. Was könnte das sein? »Dass sie jung sind – was gar nicht so wenig und mithin auch weniger banal ist, als es vielleicht scheint«, erläutert Hitzler. »Soziologisch ausgedrückt, verbindet sie das ›Kohortenschicksal‹, eben jetzt in einem bestimmten Alter zu sein.«

Kohorten sind erst mal damit beschäftigt, sich von der vorigen Kohorte abzugrenzen. So kommt es laut Hitzler, dass sich die jetzige Generation der Jungen wieder stärker für moralische Werte interessiert und mehr nach Orientierung sucht als die hedonistische Jugend der Achtziger- oder auch Neunzigerjahre – »weil das, was die Älteren ihnen mit- geben, unterkomplex und in weiten Teilen auch unterinformiert ist gegenüber den Herausforderungen, mit denen sich junge Menschen heute konfrontiert sehen«.

Auch in der Shell-Studie war die Rede von der »verstärkten Hinwendung zu traditionellen Werten wie Partnerschaft und Familie, Ehrgeiz und Fleiß sowie zu Ordnung und Sicherheit«. Klingt logisch: Der Eskapismus der Rave-Generation genügt nicht mehr, wenn alles komplizierter wird, wenn die Aussichten auf sicheres Einkommen oder funktionierende gesellschaftliche Systeme schwinden. Aber das eine bündige Wertesystem scheint zu fehlen.

II. Die Schulklasse
Ein Treffen mit dem Leistungskurs Deutsch eines Münchner Gymnasiums. Die Schüler sind in eine Ausstellung des Münchner Literaturhauses gekommen, die die Fünfzigerjahre behandelt. In Grüppchen stehen sie vor Schwarz-Weiß-Fotos von Petticoat-Mädchen und Peter Kraus. Die Schüler selbst: Sonnenbrillen im Haar, enge Jeans in hohen Stiefeln, ein Palästinensertuch ist zu sehen. Ein Mädchen sagt laut: »Krass, da hatten sie schon o.b.-Werbung!«, dann etwas Gekicher. Die Jungs interessieren sich mehr für ein paar Zeichnungen von Jagdbombern.

Später, im Foyer des Literaturhauses: ratloses Schweigen. Die Frage war, wodurch sich die junge Generation unseres ablaufenden Jahrzehnts auszeichnen wird. Was könnte der Petticoat der Nuller-Jahre sein? Mehr zur Seite sagt ein Schüler: »Der MP3-Player, vielleicht?« Die anderen nicken erleichtert: Das wäre vielleicht was, ja.

Viel einfacher ist es dann festzustellen, worum es den jungen Menschen damals, vor fünfzig Jahren, ging: frei sein, bunt sein, Kaugummi, Italien, neue Musik. Klare Sache, aber was ist dann heute modern? »Also Musik und Mode sind ja gerade eher retro«, sagt ein Mädchen und erntet Nicken. Die anderen stimmen zu: Autos wie der Mini! Schlagerpartys! Die Möbel bei Ikea! Selbst Computerspiele sollen wieder wie früher aussehen. So geht es weiter, die Laune wird hervorragend. Das Einzige, was komplett aus dem Blick gerät: die Gegenwart. Ein blinder Fleck. Nein, hier findet niemand, dass es das eine große Ding – die Idee, die Mode, die Musik oder was auch immer – gibt, das sie alle verbindet.

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III. Der Archivar
Klaus Farin ist Sprecher des Berliner Archivs für Jugendkulturen. Der Verein sammelt seit zehn Jahren Material: Bücher, Diplomarbeiten, Medienberichte, Fanzines, Flyer, CDs, Videos, alles, was Jugendkultur irgendwie begreifbar machen kann. Farin bestätigt: »Die Zeit der großen Jugendkulturen ist vorbei. Letzte Innovationen gab es mit Techno in den Neunzigerjahren.« Warum das so ist, könne man am besten verstehen, wenn man sich grundsätzlich mit der Geschichte von Jugendkulturen befasst: »Die sind von ihrer Anlage sehr oft nostalgisch und orientieren sich in ihrer Suche nach Ausdrucksformen an der Vergangenheit. In der Regel gibt es bei der Entstehung dementsprechend meist weniger Innovation, als man denkt. Nehmen wir die Jeans: Die war ein maßgebliches Zeichen der Jugendkulturen in den Fünfzigerjahren – dabei war sie eigentlich eine konservative Arbeiterhose gewesen, die dann von den Halbstarken zum Styleobjekt umfunktioniert wurde.«

Gut, und was heißt das für die Gegenwart? Alles, was sich zum Styleobjekt umfunktionieren, zitieren, re-codieren ließe, ist schon dreimal, zehnmal, zigmal hervorgekramt und verabschiedet worden. Hippie-Kleider, Rockabilly-Revolte, Punk-Nihilismus – zuletzt war in Mode und Clubmusik ein Revival der Achtzigerjahre dran (neonbunte Kleidung, knarzige Elektronikklänge). Farin erklärt: »Man kann mittlerweile von einem Pool an Formen ausgehen, derer sich Jugendkulturen bedienen. Alles, was es je an Jugendkulturen gab, ist darin noch immer vorhanden und wird in regelmäßigen Wellenbewegungen wieder hochgespült.«

Das heißt dann eben auch: Die Grenzen verschwimmen. Alle Moden bestehen gleichzeitig, nebeneinander, durcheinander. Und der Wellenschlag wird immer schneller – dank der ständigen Verdichtung und Multiplikation aller Informationen durch die Medien. Früher mussten sich Jugendliche das erste bisschen Orientierung aus drei Fernsehprogrammen und ein paar Schallplattenhüllentexten zusammensuchen. Heute ist schon ein 15-Jähriger mit einer Masse von Identifikationsangeboten bombardiert, die für ein halbes Leben reichen würde.

IV. Der Profi
Ein Besuch im Münchner »Café King«, sehr junger, sehr zeitgemäßer Club. Der Wirt Jisho Lang ist erst 26, aber schon seit acht Jahren Gastronom. Er hat die Generation, von der hier die Rede ist, jeden Abend vor Augen. Also bitte. Er schaut zur Decke und sagt: »Dass es keine richtig breiten Jugendbewegungen mehr gibt, liegt an der Reizüberflutung. Am Konsumterror. An der Tokio-Hotel-H&M-Front.«

Lang spricht über all die Informationen und Angebote und Produkte, die jungen Menschen schon aufgedrängt werden, bevor sie überhaupt auf die Idee kommen, sich über ein Selbstbild Gedanken zu machen. »Und dazu gehört auch, dass alle immer früher erwachsen werden! Ein Teenager entwickelt ja heute gar keine romantischen Ideen von Liebe mehr, er hat vor dem ersten Kuss schon alles im Internet gesehen, und zwar viel härter.«

Jisho Lang ist als Kind buddhistischer Hippies aufgewachsen, er kann sehr leidenschaftlich über Naturentfremdung und Globalisierung sprechen. Gleichzeitig liegen vor ihm auf dem Tisch ein iPhone und ein MacBook aus der neuesten Reihe. Er wischt etwas Staub vom Display des Telefons und sagt: »Wenn ich den Leuten so zuhöre, dann glaube ich, Religion wird wieder kommen. Die brauchen irgendwas, was als Gegengewicht zu dem ganzen Konsumkram funktioniert. Werte oder so. « Wann könnte es so weit sein? Lang tippt: »Wenn die Not größer wird.« Das heißt: Wenn die Kluft zwischen Konsumwahn und Hartz IV endgültig so groß ist, dass sie mit etwas Kosmetik nicht mehr zu kaschieren ist.

An einem normalen Freitagabend in Langs »Café King« fällt auf: Hier mischen sich tausend Stile, von alternativ bis Hip-Hop, von teuer bis trashig. Aber das heißt nicht nur, dass sich Gäste verschiedener Richtungen mischen – an jedem einzelnen sind Versatzstücke der unterschiedlichsten Stile und Lebenswelten zu sehen. Lauter kleine Paris Hiltons, Pete Dohertys und Pete Hiltons und Paris Dohertys. Aber egal, wie frei all die Gäste kombiniert haben mögen, was sie auf dem Laufsteg des Nachtlebens tragen – fast jeder sieht so aus, als könnte er auf der Stelle zum Casting gehen, ob Deutschland sucht den Superstar oder Germany’s Next Topmodel. Kein Zufall übrigens, dass das, was man früher »Rumhängen« nannte, heute von manchen gern ironisch »Abstylen« genannt wird.

Wenn man die Beobachtungen aus diesem und anderen Clubs im Kopf behält und dann durch die Fußgängerzonen deutscher Großstädte läuft, fällt auf, dass die Patchwork-Idee längst von der Industrie aufgenommen worden ist. Der angenehmste Job muss zurzeit sein: Designer bei H&M. Man geht abends an Orte wie das Münchner »Café King«, sieht sich an, wie die Zielgruppe ihre Fundstücke zusammenstellt – und macht das am nächsten Tag einfach zu Stangenware. Im Grunde verkaufen Ketten wie H&M ihren Kunden deren eigene Ideen. Besser geht’s nicht. Während »Anything goes« mal eine Strategie der Opposition war, also das Verweigern von Regeln, ist es jetzt zum Prinzip geworden: Beliebigkeit als goldene Regel.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Berufsjugendlicher und ein Junge vom Land auf der Suche nach den Jugendbewegungen von heute.

V. Der Berufsjugendliche
Wie sieht das einer, der Jugendkultur nicht nur beobachtet, sondern seit zwanzig Jahren selbst lebt und mitprägt? Markus Kavka, Moderator des Musiksenders MTV, ist schon über 40, er selbst nennt sich grinsend einen »Berufsjugendlichen«. Er kann vergleichen: Zielgruppe früher, Zielgruppe heute. »Mir war es damals ein Anliegen, mich von meinen Eltern abzugrenzen – optisch, musikalisch, politisch. Wenn man heute allerdings Eltern hat, die in ihrer Jugend The Cure mochten, mit blauschwarz gefärbten Haaren umherliefen und die Grünen gewählt haben, bleibt wenig Reibungspotenzial.«

Eine schnelle Einordnung, bitte: Welche Szenen sind gerade interessant? »Eine Strömung, die noch halbwegs authentisch und jugendrelevant ist, ist sicher der Hip-Hop. Vieles passiert dort immer noch im Untergrund, einige Leute können tatsächlich von sich behaupten, Hip-Hop zu leben. Relativ klar abgegrenzt ist auch die sogenannte Visual-Kei-Szene. Hier steht besonders die Optik im Vordergrund.« [Zur Erläuterung: Damit sind alle Jugendlichen bezeichnet, die ungefähr so aussehen wie Bill, der Sänger der Band Tokio Hotel.] »Und aktuell reden viele über ›Emo‹ [grob gesagt, ein Subgenre des Punkrock]. Ich persönlich halte das Ganze für eine relativ kurzlebige Modeerscheinung ohne gesellschaftliche Relevanz.«

Und dann kommt Kavka zu einem wichtigen Punkt: »Die Zugehörigkeit zu einer subkulturellen Bewegung würde auch physische Präsenz und Kommunikation einfordern, zwei Dinge, die als Gegenpart zunehmend der Rechner bzw. das World Wide Web besetzen.« Jugendliche können eben nicht nur im Internet alle beliebigen Informationen über Mode, Musik oder politische Ideen abrufen – sie können das, was sie daraus machen, auf demselben Kanal der Welt präsentieren. Und oft genügt das fürs Erste: Das Internet ist ein Experimentierfeld, auf dem man alle möglichen Wege der Selbstinszenierung testen kann, ohne sich richtig festlegen zu müssen. Wozu sich gleich mit Frisur, Kleidung und Plattensammlung einer bestimmten Gruppierung anschließen, wenn man erst mal in Onlineforen und Parallelwelten prüfen kann, wo man sich am wohlsten fühlt?

VI. Der Junge vom Land
Kurzes Gespräch mit einem, der viel im Internet ist. Markus S., 15, Schüler aus Erling, Oberbayern, zufällig gefunden in einem Chatforum. Er sagt am Telefon: »Ich kann nicht so lange, wir haben jetzt gleich ein Fußballspiel, ich spiele ja hier im Ort im Verein. Leider bin ich noch etwas müde, gestern war eine kleine LAN-Party bei mir. Manchmal wäre es schon cool, wenn ich mir einfach ein neues Computerspiel kaufen könnte. Neulich haben wir so in der Schule geredet, was wir mit tausend Euro machen würden, und als ich gesagt habe, anlegen und sparen, waren die anderen total verdutzt! Vielleicht würde ich aber doch einen neuen Computer kaufen. Ich verbringe schon viel Zeit am Rechner, nachmittags treffe ich meine Kumpels in Chatrooms, bei Lokalisten oder ICQ, da ist beinahe jeder angemeldet. Irgend-
jemand ist immer online, da muss man sich nicht extra verabreden. Chatten finde ich eigentlich ganz gut, man spricht dabei auch eher mal über private Dinge als auf dem Pausenhof, und ich bin mittlerweile beim Tippen schon recht schnell.

Markenklamotten sind auch ein großes Thema, finde ich. Wir tragen halt alle Skater- oder Snowboardstyle, meistens amerikanische Marken, dabei sind mir die USA eigentlich gar nicht so sympathisch, was man da immer hört, wie die sich aufspielen und was alles von denen abhängt, ist schon komisch.

Und wenn ich so nachdenke, Fußball ist schon wirklich ein wichtiger Teil in meinem Leben, das mache ich eigentlich fast jeden Tag. Deshalb habe ich nicht so viel Zeit, mich für irgendwelche anderen Sachen zu engagieren, ›Rettet die Wale‹ oder die Umwelt AG in der Schule. Obwohl … ich glaube, wir haben nicht mal eine Umwelt AG.«

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Guru auf der Suche nach den Jugendbewegungen von heute.

VII. Der Guru
Letzte Runde. Jetzt noch die große Einordnung. Vielleicht weiß Diedrich Diederichsen weiter. Popkultur-Theoretiker, ehemaliger Chef der Zeitschrift Spex, heute Professor an der Stuttgarter Merz Akademie, einer, der Ausprägungen und Bedeutungen von Jugendkulturen immer genau beobachtet hat. Er stellt fest: »Das Programm ›Jugendkultur‹ ist heute zu einem Ende gekommen. Das liegt in erster Linie daran, dass ihm mittlerweile die Bezugspunkte abgehen. Einer Jugend-
kultur als Gegenkultur fehlt heute eine konturierte Gestalt der Gegner.«

Das Problem: Der Rest der Gesellschaft ist umgeschwenkt. Früher mal, lang her, war Jugendkultur Protest, Abgrenzung, Differenzierung. Inzwischen haben sich nicht nur die Eltern, sondern vor allem RTL und andere Spaßmedien so sehr der Themen bemächtigt, die mal als »jung« galten, dass kein Spielraum für Abgrenzung bleibt. Das Phänomen, das Jisho Lang mit der Tokio-Hotel-H&M-Front meinte. Welche Mode, welchen kleinen Trend auch immer sich junge Menschen ausdenken – Medien und Werbewirtschaft stürzen sich umgehend darauf, um die neuen Ideen zu Geld (Quote, Kleidung) zu machen.

Diederichsen sagt: »Die Erwachsenen drängen massiv in Bereiche vor, in denen sich bislang nur Jugendliche aufgehalten haben. Diese Bereiche werden dadurch aufgeweicht. Jugend- und Popkulturen haben einen gewissen Kanon herausgebildet, dessen man sich bedienen können muss. Vor einigen Jahren hat sich Angela Merkel in einem Interview unwissend über die Beatles geäußert, danach gab es einen Aufschrei und die vehemente Behauptung, dass sie uns nicht regieren kann. Man kann in dieser Hinsicht auch von einer Art Zwangs-Pop sprechen.«

Dazu passt, was der Jugendarchivar Klaus Farin festgestellt hat: »Die Codes der Jugendlichen werden ästhetisch übernommen, aber inhaltlich entleert. Untersuchungen haben etwa gezeigt, dass eine Werbung, in der ganz deutlich Teenager angesprochen werden, den größten Erfolg bei über 30-Jährigen hatte. Die Jugendkulturen verschwimmen also auch, weil sie nicht mehr hauptsächlich von den Jugendlichen, sondern von Leuten besetzt werden, denen schon durch ihr Alter der Bezug und der richtige Zugang fehlen.«

So schließt sich der Kreis. Ein Phänomen schafft sich nach fünfzig Jahren selber ab. Jugendbewegungen, wie sie in den letzten Jahrzehnten zu erleben waren, gibt es ja noch nicht lang. In früheren Jahrhunderten war es mangels Medien und Vernetzung nicht möglich, etwas wie eine weltweite Jugendkultur zu etablieren. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Erfindung von Pop, Popkultur und allem, was dazugehört, war sie möglich.

Schade: Nach fünfzig Jahren hat der Zwangs-Pop die ganze Gesellschaft erfasst. Und für die Zwangsjugend gilt das erst recht. Die Zeit der Jugendbewegungen ist also aus einem ganz einfachen Grund vorbei: Wenn alle jung sein wollen, ist keiner mehr jung.

Nachtrag
Aus einer Schüler-Mail an Hitzlers Homepage Jugendszenen.com: »Uns ist aufgefallen, dass Sie alle Szenen in Schubladen stecken. Das nahmen wir negativ auf, weil wir uns selbst in keine Szene einordnen können.«

Mitarbeit: Max Scharnigg und Hanna Engelmaier

Ein Porträt einer neuen Generation "Die Jugend von morgen" finden Sie hier.