Warum Kinder uns nicht wurst sein sollten

Vor fünf Jahren beschloss die Bundesregierung einen "Nationalen Aktionsplan", um Deutschland bis zum Frühjahr 2010 "zu einem der kinderfreundlichsten Länder Europas zu machen". Und jetzt raten Sie einmal, was aus dem Vorhaben geworden ist.

Vielleicht sollte sich Kristina Schröder einfach mal einen Propeller auf den Rücken schnallen, so wie der kleine Karlsson vom Dach im Buch von Astrid Lindgren. Dann könnte sich die Familienministerin in die Luft erheben und über Kanzleramt, Reichstag und Abgeordnetenbüros hinweg nach Norden fliegen, wo nicht nur Touristen, Journalisten und Kanzlerinnen herumlaufen: in den Wedding etwa, eine Arbeitergegend, und nach Pankow, einem Kleine-Leute-Viertel.

Hier leben viele durchschnittlich vergnügte Familien mit Durchschnittsgehältern und Durchschnittsleben, aber auch sehr viele junge Männer, die oft nur mit Mühe ihren Hauptschulabschluss schaffen. Hartz-IV-Empfänger und -Aufstocker, Arbeitslose und Minijobber, Almosenempfänger, Alleinerziehende, Ausländer. Anschließend könnte sich Frau Schröder vom Dach nach Süden wenden, nach Neukölln zum Beispiel, wo viele Mädchen leben, die wenig Deutsch sprechen, Kopftücher tragen und im Haus ihrer Verwandten als bessere Putzfrauen eingesetzt werden, während die Männer im Teehaus oder auf den Straßen herumhängen. All das kann die neue Familienministerin Kristina Schröder nämlich im Moment nicht sehen von ihrem Amtssitz in der Glinkastraße aus. Auch ihre Vorgängerinnen Renate Schmidt und Ursula von der Leyen, die noch vom Alexanderplatz aus regierten, waren vor allem von Lärm, Autos, Plattenbauten und Werbetafeln umgeben – nicht aber von Kindern. Immerhin hat es sich bis zum Familienministerium herumgesprochen, dass Kindheit in Deutschland heute ein hartes Schicksal sein kann und dass dieser Umstand eigentlich ein Skandal ist in einem so reichen Land.

Im Jahr 2005 jedenfalls präsentierte Renate Schmidt den »Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland« im Bundestag. Bis zum Frühjahr 2010, hieß es in der hundert Seiten langen Schrift, wollte man endlich Großes erreichen: mehr Chancengleichheit, eine Kindheit ohne Gewalt, eine gesündere Umwelt, mehr Mitsprache in der Politik und weniger Armut. Mit Servicebüro, Webportal und Lenkungsgruppen sollte Deutschland zu einem der »kinderfreundlichsten Länder Europas« gemacht werden, wie gesagt: bis zum Frühjahr 2010.

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Um zu beweisen, wie gut es den Kindern heute geht, hat das Familienministerium einige Erfolge auf seiner Webseite aufgelistet: Da steht zum Beispiel, dass »mit dem Kinderförderungsgesetz mittlerweile die letzten juristischen Hürden zum Ausbau der Kinderbetreuung beseitigt wurden«. Mit dem Aktionsprogramm »Frühe Hilfen« habe man »wirksame Bausteine gegen Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern geschaffen«. Hinzu kämen das Elterngeld oder das erhöhte Kindergeld, um »die Familien vor dem Abrutschen in Armut zu schützen«. So folgt ein Erfolg auf den anderen.


Mit dem kleinen Schönheitsfehler nur, dass sich diese Erfolge nur schwer mit der Realität in Einklang bringen lassen: Tatsächlich nimmt die Kinderarmut nämlich eklatant zu. Es wird auch nicht, wie versprochen, bis 2013 für ein Drittel aller Kleinkinder einen Krippenplatz geben. Länder und Kommunen sind so ausgeblutet, dass sie nur wenige Ganztagsschulen finanzieren können, nicht genug Lehrer, Schulpsychologen, Jugendsozialarbeiter. Schwimmbäder werden geschlossen, Kinderbüchereien auch. Zwar gibt es mehr Kindergeld, aber Hartz-IV-Familien sehen davon nichts.

Es gibt auch ein schönes Elterngeld, von dem aber nur profitiert, wer bereits einen guten Job hat. Und es hat schon das Bundesverfassungsgericht gebraucht, um dem Staat zu verdeutlichen, dass die Hartz-IV-Sätze für Kinder nicht angemessen sind und zu einer glücklichen Kindheit auch »soziale Teilhabe« gehört. Wäre die Familienministerin ehrlich, würde sie zugeben, dass der Nationale Aktionsplan schon am Tag seiner Verkündung zum Scheitern verurteilt war. Und dass jeder, der heute behauptet, Deutschland sei besonders kindgerecht, ein Heuchler ist.

Was Kinder brauchen, wonach sie sich sehnen, womit sie erblühen, das sind Liebe und Fürsorge und Nähe, wildes Grün zum Spielen und Freiheit zum Lärmen, Anregung zum Lernen, gesundes Essen und Gutenachtgeschichten, Sicherheit und Träume, Zärtlichkeit und Autonomie. All das kann der Staat nicht verschreiben. Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat sich 2008 unter dem sehr viel sachlicheren Titel »Studie zum Wohlbefinden von Kindern« damit befasst, welche Länder den Kindern zumindest angemessene Lebensbedingungen verschaffen.

Das Ergebnis: Deutschland schneidet besonders schlecht ab.
Es gibt bis zu zwanzig Prozent mehr für Bildung, Dienstleistungen und direkte Finanztransfers an Kinder aus als die OECD-Länder im Schnitt, bei den direkten Geldzahlungen an Familien liegt es besonders weit vorn. Dennoch lebt fast jedes sechste Kind in relativer Armut, und auch was Chancengleichheit und gute Schulbildung angeht, gehört Deutschland zu den Schlusslichtern. Die Autoren der Studie folgerten, wie schon UNICEF vier Jahre zuvor:

Anderswo wird viel mehr für arme Familien getan. Und anderswo wird viel mehr in Strukturen, also in Schulen und Kinderbetreuung investiert. Anderswo sind Kinder vielleicht nicht glücklicher, aber sie haben mehr Perspektiven für die Zukunft.


Kann es sein, dass es beim Verfassen des Nationalen Aktionsplans gar nicht sosehr um das Kindeswohl ging? Vieles, was theoretisch kindgerecht sein soll in Deutschland, ist nämlich vor allem arbeitsgerecht. Arbeitgeber, Ausbilder, Jobvermittler, Unternehmensberater und Personalsachbearbeiter denken beim Thema Kinder vor allem an solche Fragen: Wie kann man Kinder so unterbringen, versorgen und erziehen, dass Wirtschaft und Arbeitsmarkt profitieren?

Wie kann man Beruf und Familie so vereinbaren, dass Mütter überhaupt arbeiten und Väter mehr arbeiten können? Dass der Erziehungs- und Ausbildungsmarkt ausreichend Nachwuchs für den Arbeitsmarkt ausspuckt? Dass es genug Facharbeiter gibt? Und dass der Staat Milliarden an Sozialkosten spart?

Wenn Unternehmen flexible Arbeitsplätze und mehr Halbtagsjobs anbieten, gehen mehr Mütter arbeiten. Wenn es mehr Kindergärten und Ganztagsschulen gibt, schaffen auch mehr Kinder die Schule, die nicht gut Deutsch sprechen oder keine Akademiker-Eltern daheim haben. Wenn es mehr Kindergeld gibt und mehr Elterngeld, dann können sich mehr Menschen Kinder leisten, die dann später arbeiten gehen und unsere Rente finanzieren. Das alles sind rein ökonomische Überlegungen, die mit Kindeswohl nur am Rande zu tun haben.
Kindgerecht sieht aber anders aus.

Und Kinderglück bedeutet, dass Aschenputtel ins Schloss zu ihrem Prinzen zieht, Hänsel und Gretel so reich aus dem Hexenwald zu ihrem Vater heimkehren, dass der nie wieder arbeiten muss, und dass Pippi Langstrumpf endlich ihren Vater findet und das Taka-Tuka-Kinder-Paradies. Vielleicht wäre der »Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland« erfolgreicher gewesen, wenn einer der Verfasser im Familienministerium vorher ein paar Märchen gelesen hätte.

Foto: Haushoch, Berlin für Haushoch Magazin Nr.3