Die Juristin Carolin Mändler* genießt die Sonne an der Bayrischen Staatsoper in München. Hier um die Ecke hat sie einmal gewohnt. Nun schläft sie im Frauenobdachlosenheim Karla 51
Das Leben, wie man es kennt, kann von einer Sekunde auf die nächste vorbei sein. Carolin Mändlers* altes Leben endet mit dem Klingeln an der Haustür: Hausmeister, Gerichtsvoll-zieher und Möbelpacker kommen in ihre Wohnung. Carolin Mändler, 49 Jahre alt, Juristin, hat sie schon erwartet; hat ihren Koffer gepackt, Dinge, die ihr wichtig sind, bei einem Freund in Sicherheit gebracht, den Laptop, ein paar teure Kleider, eine Halskette. Sie unterschreibt den Zwangsräumungsbescheid im Stehen – die Stühle tragen die Möbelpacker schon aus dem Zimmer. Dann schleppen sie den Tisch die Treppe hinunter, den Kühlschrank und den antiken Kleiderschrank, den Carolin Mändler von ihren Eltern zum Abitur bekommen hat. Der Hausmeister weint, als er sie zum Abschied umarmt, der Gerichtsvollzieher drückt ihr die Hand. Dann steht sie auf der Straße.
Erika Brenner* fängt an zu spielen, dann zu trinken – oder umgekehrt, sie weiß es nicht mehr. Jedes Mal, wenn sie denkt, sie habe die Sucht besiegt, legt die sich wieder wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie wird stärker als jede andere Bindung in ihrem Leben – Erika Brenner belügt ihre Freunde, zerstört ihre Beziehung, verliert ihre Wohnung und ihre Selbstachtung. Im März 2008 steht sie auf der Straße, kennt keinen Menschen, an den sie sich wen-den kann, keinen Ort, an dem sie bleiben darf, und überlegt: »Will ich meinen Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen, oder ist es hier und heute vorbei?«
Am 14. Juli 1998 trifft Gertrud Hofmaier* die einsamste Entscheidung ihres Lebens: Sie kniet an einem Weiher im bayerischen Freising, stürzt einen Cocktail aus Beruhigungstabletten und Schlafmittel hinunter und schneidet sich die Pulsadern auf. Als zwei Spaziergänger sie entdecken, ist sie schon bewusstlos. Die Ärzte retten ihr Leben in letzter Minute. Wenn die 65-Jährige heute über die Narben an ihrem linken Handgelenk streicht, hat sie Tränen in den Augen. »Sonst geht dort nie jemand spazieren«, sagt sie. Das Schlechte kam früh in Gertrud Hofmaiers Leben; und auch nach dem Selbstmordversuch verschwindet es nicht.
Eine Geschichte über drei Frauen, die auf der Straße gelandet sind. Es gibt viele Wege in die Obdachlosigkeit, doch meistens sind es diese: Die Frauen haben Schulden, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können; sie sind psychisch krank, alkohol- oder drogensüchtig; sie fliehen vor ihren Vätern oder Männern, die sie schlagen und missbrauchen.
Die Schulden
Zwölf Jahre lang lebt Carolin Mändler in ihrer Wohnung, Tür an Tür mit Schönheitschirurgen und Zahnärzten, es sind nur ein paar Meter zur Münchner Staatsoper und in die Residenz. An dem Tag, an dem sie den weinenden Hausmeister umarmt, lässt sie die Wohnung und ihr altes Leben zurück. Seit einem halben Jahr kämpft Carolin Mändler gegen die Obdachlosigkeit. Wer ihr auf dem Königsplatz in München begegnet, dem sticht eine attraktive Frau ins Auge, schlank, kinnlanges dunkles Haar. Wenn sie redet, fällt in fast jedem Satz das Wort »Neuanfang«. Sie trägt einen eleganten, langen Mantel und einen großen Hut. Ihr Ziel heute: ein Immobilienbüro, das auch an Menschen vermietet, die von der Stütze leben. In den Monaten ihrer Obdachlosigkeit hat sie viele Wohnungen besichtigt, bekommen hat sie keine. »Wenn die Vermieter erfahren, dass ich Hartz-IV-Empfängerin bin, wollen sie nicht mehr an mich vermieten«, sagt sie.
Seit Kurzem wohnt Carolin Mändler in einem kleinen Zimmer im Münchner Frauenobdachlosenheim »Karla 51« und sucht eine Wohnung, die nicht teurer ist als 429,21 Euro im Monat, so viel zahlt das Amt. Die Miete für ihre alte Wohnung kostete 1200 Euro. Jetzt ist Carolin Mändler hoch verschuldet, wie hoch, darüber schweigt sie. Als sie beim Immobilienbüro ankommt, ist die Tür verschlossen; der Makler hat den Termin vergessen.
*alle Namen von der Redaktion geändert
Noch eben die Haare zurechtgezupft: Gertrud Hofmaier am U-Bahnhof Königsplatz in München. Wenn es regnet, hört sie hier gern der klassischen Musik zu.
Es gab eine Zeit, da aß die Juristin Carolin Mändler in den besten Restaurants, entspannte am Wochenende am Gardasee und kaufte sich Küchengeräte von Alessi. Sie versicherte für den Deutschen Lloyd Michael-Jackson-Konzerte, arbeitete eine Weile selbstständig, lag mit Laptop und Headset an der Isar und verkaufte private Krankenversicherungen. In guten Monaten verdiente sie 8000 Euro. »Eigentlich wollte ich mir ein Konto zulegen, für schlechte Zeiten«, sagt sie. Eigentlich.
Es sind keine Schicksalsschläge, die Carolin Mändler in die Obdachlosigkeit führen, kein Unfall, keine Krankheit. Die Not schleicht sich manchmal in ein Leben. Zweimal geht Carolin Mändler Beziehungen mit ihren Chefs ein, und als die scheitern, verliert sie auch ihren Job. Sie findet beide Male wieder eine Stelle, zuletzt beim Pharmakonzern Aventis in der Personal- und Rechtsabteilung. Als der Konkurrent Sanofi die Firma schluckt, verliert sie ihre Arbeit zum dritten Mal. Zur gleichen Zeit sterben kurz hintereinander Vater und Mutter.
Ihre Beziehung zerbricht, weil der Freund sie mit seiner fanatischen Eifersucht quält. Was Carolin Mändler nun braucht, ist Zeit. Zeit zum Verschnaufen, Zeit, um die Ereignisse zu verkraften. Sie verdrängt die Anzeichen der nahenden Not, zieht sich zurück, sucht keine billigere Wohnung, keinen neuen Job. Es gibt keinen Menschen, der sie auffängt, keinen, der sich um sie kümmert. Monat für Monat wird ihr Konto leerer. Die Pfändungsschreiben und Mahnungen, die nun täglich in ihrem Briefkasten liegen, öffnet sie nicht. »Ich dachte bis zum Schluss: Ich lande schon nicht auf der Straße.« Dann kommt der Räumungsbescheid.
Obdachlose, das sind Gestrandete, denkt man, Menschen, die auf Parkbänken sitzen, Bier trinken oder mit Einkaufswägen voller Pfandflaschen durch die Fußgängerzone schlurfen; vor allem aber denkt man an Männer. Es gibt keine offizielle Erhebung darüber, wie viele Menschen in Deutschland obdachlos sind. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) kam bei ihrer letzten Schätzung 2006 auf zirka 254000. Und seit einigen Jahren trifft es immer mehr Frauen.
Mitte der Neunzigerjahre waren nach Schätzung der BAG W zwölf bis 15 Prozent der Obdachlosen Frauen, heute sind es 25 Prozent. Weil sich die Art und Weise, wie Männer und Frauen leben, immer weiter angleicht; weil Frauen heute für sich selbst sorgen, anders als die Hausfrauen der Sechziger- oder Siebzigerjahre. Allein leben, das bedeutet Selbstständigkeit, eigene Wohnung, Kredite. Doch mit größerer Freiheit steigt auch das Risiko – und die Zahl der Frauen, die dabei scheitern. Bei ihren Obdachlosenschätzungen rechnen die Experten mit einer hohen Dunkelziffer, vor allem bei den Frauen; sie neigen stärker dazu, ihre Not zu vertuschen, leben meist in »verdeckter Wohnungslosigkeit«.
Das heißt, sie kommen kurzfristig bei Bekannten unter – oftmals gegen sexuelle Dienste – und achten noch mehr als Männer darauf, dass man ihnen die Obdachlosigkeit nicht ansieht. Weil sie schwächer sind, fürchten sie, von betrunkenen männlichen Obdachlosen unter der Brücke oder in Notunterkünften geschlagen und vergewaltigt zu werden. Man sieht sie selten in den Gruppen, die auf Parkbänken sitzen – obdachlose Frauen sind Einzelgängerinnen.
Gertrud Hofmaier in ihrem Zimmer im Frauenobdachlosenheim Karla 51. Bevor sie hierher kam, schlief sie am Grab ihrer Mutter.
Der Alkohol
Als Kind wächst Erika Brenner zwischen Wäldern, Seen und Kühen auf. Sie liebt ihre Eltern, findet die Schule okay, trifft sich oft mit Freundinnen. Erika Brenner wird Pflegerin, dann Friseurin, betreibt später ein Bistro. Schon mit 20 Jahren hat sie immer wieder Bandscheibenvorfälle, kann kaum noch arbeiten. Ihr kaputter Rücken macht sie zur Hartz-IV-Empfängerin. Sie zieht nach Hamburg, ihrer Traumstadt, doch den Alltag rettet das nicht, er bleibt grau, eintönig. Mit Roulette, Spielautomaten und Alkohol versucht sie die Langeweile zu vertreiben.
Sie verschuldet sich, verstrickt sich in Lügen, enttäuscht ihre Freunde. Eine Weile schafft sie es aufzuhören, mit dem Trinken und dem Spielen. Sie lernt eine Frau kennen, in die sie sich verliebt, und zieht zu ihr. Doch die beiden passen nicht zusammen. Erika Brenner ist unglücklich, beginnt erneut zu spielen und zu trinken. Die Frauen trennen sich, und die Ex-Freundin wirft die Süchtige aus der Wohnung. Wegen ihres Schufa-Eintrags will niemand mehr an Erika Brenner vermieten: »Das war die größte Niederlage für mich, kein Dach mehr über dem Kopf zu haben«, sagt die 45-Jährige heute. »Ich konnte nur zur Obdachlosenhilfe gehen oder mich umbringen.«
Sie entscheidet sich für die Hilfe und wird an die Notunterkunft »FrauenZimmer« in Hamburg-Mitte vermittelt. Ihr Zimmer ist klein, aber gemütlich. Auf dem Fensterbrett stapeln sich Krimis von Henning Mankell, an der Tür hängt der Spielplan des Thalia Theaters. Erika Brenner will eine Wohnung finden und eine Arbeit, die sie trotz ihres Rückenleidens ausüben kann. Und die Sucht? »Ich bin trocken und habe auch nie mehr gespielt«, sagt sie, zögert ein wenig und klopft dann mit den Handknöcheln mehrmals auf den Holztisch.
Die Mitarbeiter der Obdachloseneinrichtungen wissen fast niemals, was aus den Frauen geworden ist, die nach einiger Zeit wieder eine eigene Wohnung gefunden haben; ob es ihnen auf Dauer geglückt ist, ein normales Leben zu führen mit Wohnung, Freunden, Familie, vielleicht sogar einem Job. Es gibt keine Zahlen, wie viele Frauen den Weg zurück in die Gesellschaft schaffen, ehemalige Bewohnerinnen melden sich selten noch einmal bei den Notunterkünften. Die Frauen wollen diesen Teil ihres Lebens schnell vergessen.
Der Missbrauch
Mit acht Jahren hört Gertrud Hofmaier auf, ein Kind zu sein. Der Stiefvater missbraucht sie regelmäßig. Als sie sich ihrer Mutter anvertraut, glaubt die ihr nicht. Mit 14 macht sie eine Lehre als Serviererin, arbeitet dann in einem Gasthaus. Zehn Jahre später bekommt sie einen Sohn, die Affäre mit dem Vater dauert nur kurz. Gertrud Hofmaier muss das Geld für alle verdienen, für sich, die Mutter, den Stiefvater, das Kind. 1981 ist sie 38 Jahre alt und erfüllt sich endlich einen Traum: ihre eigene kleine Kneipe in München-Perlach.
Das Glück hält nicht. Das Verhältnis zu ihrem inzwischen 19-jährigen Sohn ist angespannt, ihre Mutter leidet unter Depressionen, der Stiefvater ist ständig betrunken. Die Kneipe läuft schlecht, Gertrud Hofmaier kann nicht mit Geld umgehen. Fünf Jahre nach der Eröffnung bleiben von ihrem Traum nur Erinnerungen und 130000 Mark Schulden.
Gertrud Hofmaier schuftet jeden Tag, sie putzt, bedient in einem fremden Lokal; es dauert zwölf Jahre, bis 1998, dann hat sie die Schulden abgearbeitet. Jetzt könnten endlich wieder gute Zeiten anbrechen – doch Gertrud Hofmaier bekommt Depressionen. Sie verschenkt ihr Rosenthal-Geschirr, die neue Seidenbettwäsche und alles, was sie sonst besitzt, und macht sich auf den Weg zum Freisinger Weiher, an dem ihr Leben enden soll. Als zwei Spaziergänger sie finden, hat sie sich bereits die Pulsadern aufgeschlitzt.
Carolin Mändler in der Maximilianstraße. Die Zeiten, in denen sie hier einkaufte, sind lange her.
Neun Monate später wird Gertrud Hofmaier aus der Psychiatrie entlassen und will keinen Menschen mehr sehen. Sie klettert auf einen Jäger-Hochsitz in der Nähe von Freising. Hier hat sie ihre Ruhe, hier bleibt sie – eineinhalb Jahre lang.
Nachts rollt sich Gertrud Hofmaier in einen Schlafsack auf dem Hochsitz, tagsüber durchwühlt sie Mülleimer nach Essen. Die ersten Tage weint sie noch, vor Scham, vor Hunger. Ihre Hand steckt sie nur in die Abfälle, wenn keiner in der Nähe ist. Sie wäscht sich in öffentlichen Toiletten. »Keiner soll sehen oder riechen, dass ich eine Pennerin bin«, sagt sie sich.
Irgendwann fischt sie Zeitungen aus dem Müll und liest Stellenanzeigen. Nach eineinhalb Jahren Obdachlosigkeit findet sie einen Job als Laborhilfe an der TU Weihenstephan. Gertrud Hofmaier zieht in ein kleines Apartment in Freising, meldet sich nach all der Zeit wieder bei ihrer Mutter und kümmert sich um die alte Frau, bis diese im Sommer 2007 in einem Heim stirbt.
Nun kehren die Depressionen zurück. Gertrud Hofmaier muss aufhören zu arbeiten, braucht eine billigere Wohnung. Sie findet keine, sie muss von 628 Euro Rente im Monat leben. Günstige Wohnungen für Alleinstehende sind rar. Wohnungen, die den Kommunen gehören, werden oftmals an private Vermieter verkauft, und die wandeln sie nicht in Sozialwohnungen um.
Weil sie nicht weiß, wohin, als sie die Wohnung verliert, schläft Gertrud Hofmaier hinterm Grabstein ihrer Mutter auf dem Waldfriedhof in Freising, dann richtet sie sich mit einer Decke und ihrem Koffer auf einem offenen Anhänger ein, der zwischen den Gräbern steht. Morgens wäscht sie sich in der Friedhofstoilette. Als eine alte Bekann-te sie entdeckt, begleitet sie Gertrud Hofmaier zum Sozialamt, das sie an die Notunterkunft »Karla 51« vermittelt. Dort zahlt sie für ihr Zimmer 190 Euro Miete im Monat.
Wenn es regnet, setzt sie sich in den U-Bahnhof am Königsplatz und hört der klassischen Musik aus den Lautsprechern zu. Regnet es nicht, fährt sie nach Freising zum Grab ihrer Mutter. Mehr Familie hat sie nicht. Ihren Sohn hat sie in den letzten Jahren kaum gesehen. Auf Gertrud Hofmaiers letzten Brief hat er geantwortet: »Meine Kinder und ich wollen nichts mit dir zu tun haben.«
Auf dem Holzkreuz am Grab der Mutter hat Gertrud Hofmaier einen Zettel befestigt und in geschwungener Mädchenschrift darauf geschrieben: »Und es ist der Raum des Schweigens, in dem Gott selbst in mir wohnt, dort bin ich wahrhaft frei, dort hat keiner Macht über mich. Dort kann mich nie jemand verletzen.«
Carolin Mändler wohnt noch im Frauenobdachlosenheim. Sie versucht ihr Leben neu zu ordnen und über die Trennung von ihrem Freund hinwegzukommen. Aus Angst vor seiner Wut hat sie ihre Handynummer gewechselt.
Erika Brenner wohnt noch im Hamburger »FrauenZimmer«. Sie sucht einen Job, den sie trotz des Rückenleidens ausüben kann. Sie hat nicht wieder angefangen zu trinken. Ihre Betreuerinnen sagen, sie habe gute Chancen, es diesmal zu schaffen.
Gertrud Hofmaier hat eine neue Wohnung in München gefunden. Sie fährt nach wie vor jeden Tag zum Grab der Mutter auf dem Waldfriedhof in ihrer alten Heimat Freising.
Fotos: Stephanie Fuessenich und Urban Zintel