Das Polokleid für ihre achtjährige Tochter hatte Christiane G. extra für das Schulfest gekauft und dann sofort die Freude daran verloren. Sie stand mit ein paar Müttern, die ihren Töchtern beim Spielen zusahen, am Kuchenstand. Da sagte eine Mutter zu Christiane G.: »Hübsches Polokleid, das hatte ich bei H&M auch gesehen.« Den Nachsatz »Ich habe es aber nicht gut genug gefunden«, sagte sie nicht. Dennoch war er nur für Väter unhörbar. Schon legte eine andere Mutter nach: »Weißt du nicht, wofür das Label L.O.G.G. von H&M steht? Das ist die Abkürzung für ›Leider Ohne Geld Geboren‹!« Alle lachten schrill; froh, dass es sie nicht getroffen hatte.
Christiane G. fühlte Scham. Dann eine mörderische Wut. Auf sich, weil sie sich schämte. Auf die anderen Mütter. Auf das Muttersein, das sie in eine Situation zurückgeschleudert hatte, die sie auf ewig hinter sich gelassen glaubte: Die Konkurrenz der Mädchencliquen auf dem Schulhof. Sie stand versteinert, bar jeder schlagfertigen Antwort. »Ach komm«, sagte eine, die vorsichtig die Lachtränen unter ihrer Wimperntusche wegwischte, »hab doch ein bisschen Humor!« Und Christiane G. lächelte – ihre einzige Alternative zu einer Reaktion, die ihr Kind sonst ins soziale Abseits gestellt hätte. »Da wusste ich, dass es Schlimmeres gibt, als zur Schulzeit nicht in der richtigen Clique gewesen zu sein«, sagt sie. »Natürlich ist das lächerlich. Aber typisch für den alltäglichen Stress mit anderen Müttern.« Es fällt allerdings schwer, das zuzugeben. Fragt man Mütter, sagen erst mal alle, wie gut sie mit anderen Müttern auskommen. Na ja, mit einigen Ausnahmen. Die Lust, mal richtig über die anderen herzuziehen, ist groß, die Angst vor Ausgrenzung ist größer, die Angst vor Ausgrenzung der eigenen Kinder durch die Kinder der kritisierten Mütter am größten. Deshalb wollen viele ihre Leidensgeschichten nur anonym erzählen, so wie Christiane G. Das Zeugenschutzprogramm ist sinnvoll, denn Mütter sind wie die Mafia: Sie vergessen nichts und verzeihen Verrätern nie. Und Kontakte sind das tägliche emotionale Brot; das Gewebe der Beziehungen unter Müttern ist die Basis für das Beziehungsgeflecht ihrer Kinder. Ein Kind ohne Freunde, besonders das heute übliche urbane Einzelkind, ist also das arme Kind einer schlechten Mutter.
Nach außen erscheinen Mütter, unabhängig von der sozialen Schicht, als engagierte Gruppe von Frauen mit Kindern. Sie gelten als freundlicher und sensibler als kinderlose »Karrieristinnen«. Politik und Gesellschaft unterscheiden höchstens die, die zusätzlich arbeiten gehen, von den anderen. Doch die Army of Mothers kennt viele Dienstgrade. Nach einigen Jahren an der Front wird klar: Es gibt in der Mutterschaft mehr Splittergruppen als bei den Globalisierungsgegnern. Beide Bewegungen definieren sich zwar als grundsätzlich friedlich im Kampf um bessere Bedingungen für die Generation Zukunft, beider Feinde sind übermächtig und meistens männlich. Aber über den ideologisch richtigen Weg zum Erfolg wird intern erbittert gestritten. Umso erbitterter, weil der Rohstoff Kind immer rarer und damit kostbarer wird.
»Nie war die Mutterrolle so mit Erwartungen und Anforderungen überladen, wurde mütterlichen Fürsorgerinnen so viel körperlicher wie emotionaler Einsatz am Kind abverlangt wie heute. Doch statt einander solidarisch unter die Arme zu greifen und moralisch zu unterstützen, entfesseln die erschöpften Frauen auch noch einen kräftezehrenden Wettstreit um das bessere Frauen- und Muttermodell«, schreibt Cornelie Kister, selbst Mutter von vier Kindern in ihrem Buch Mütter, Euer Feind ist weiblich mit dem Untertitel »Wie Frauen sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen«. Da kämpfen Mütter von vielen Kindern gegen Mütter von Einzelkindern, Karriere- gegen Teilzeit- gegen Vollzeitmütter, junge Mütter gegen späte, Öko- gegen Fertigpizza-Mütter.
Es gibt viele Dinge, die Mütter an anderen Müttern so stören, dass sie keinesfalls mit ihnen an einer besseren Weltordnung arbeiten wollten – geschweige denn einen Latte macchiato trinken. Cornelie Kister schreibt in ihrem Buch: »Um die Anforderungen der Mutterschaft überhaupt bewältigen zu können, müssen sie davon überzeugt sein, dass ihr Konzept passabel ist und sich die Mühe lohnt. Nahezu reflexhaft verteidigt jede Mutter deshalb ihr Konzept nach außen. Und wenn außer ihr selbst niemand ihre Erfolge als Mutter lobt, dann hilft es bisweilen, wenn man wenigstens das Lebensmodell der anderen kritisiert und madig macht.«
• Last-Minute-Mütter, die im Sommer Sandalen kaufen wollen, hassen Vorsorge-Mütter, die alle Sandalen schon im Winter aufgekauft haben.
• Umweltbewusste Mütter hassen Mütter, die Geburtstagspartys ihrer Kinder mit Skifahren im »Snowdome« feiern.
• Mütter, die nur an Elternabenden in die Schule gehen, verabscheuen Mütter, die den Geburtstag der Lehrerin wissen und ihr auch noch einen Kuchen backen.
• Mütter mit pädagogischen Ratgebern verachten Mütter, die sich mit Erziehung keine Mühe machen, da »alles eine Frage der Gene ist«.
• Ängstliche Mütter fürchten heilpraktische Mütter, die beim Kind Antlitzdiagnostik betreiben: »Das sieht aber nach schwacher Niere aus!«
• Jungs-Mütter von Erben mit Polohemden und Topfschnitt meiden Jungs-Mütter kommender Kreativer mit langen Haaren und Parkas.
• Mütter mit Kleidergröße 40 hassen Mütter mit Größe 34/36, die Kuchen essen und jammern, seit der Geburt wären ihre Hüften so breit.
• Osteopathisch gebildete Mütter finden Mütter unmöglich, die den fragilen Nacken ihres Säuglings im Babyjogger herumschleudern und über hohe Bordsteine rumpeln.
Bei den Anforderungen an die »Managerin eines erfolgreichen Kleinunternehmens« ist es heute leichter denn je, als schlechte Mutter zu gelten. Noch eine Generation früher hatte man Kinder, die schon ihren Berufsweg machen würden, und die Renten schienen sicher. Der Fokus lag auf den Erwachsenen und ihrer Welt, der Nachwuchs wurde nebenbei groß und schrie nicht »Kinderarbeit ist verboten!«, wenn er sein Zimmer aufräumen sollte. Man freute sich über Erfolge, für Misserfolge waren die Kleinen selbst verantwortlich und lernten hoffentlich daraus.
Dass Zehnjährige noch keine Taille hatten, war normal, auch dass sie morgens ein Schulbrot mitbekamen und keinen Blatt-salat mit einem Gläschen fettfreien Dressings. Im Fernsehen gab es nur wenige Programme, keine Werbung und nachts das Testbild. Kein Deutschland sucht den Superstar, kein Germany’s Next Topmodel schufen ein globales Zerrbild, das suggerierte, Schönheit, Glück und Erfolg seien binnen einer Staffel machbar. Waren bei der Erziehung früher sogar die Eltern oder Persönlichkeiten aus Verwandtschaft und Freundeskreis »echte« Vorbilder für Kinder, dominiert heute ein Angepasstsein an einen so hohen wie eng definierten gesellschaftlichen Standard, genau wie die Angst, dem nicht zu genügen.
»Kinder stehen heute ab Geburt unter Beobachtung ihrer besorgten Mütter. Da wird ein Verhalten ganz schnell pathologisiert und medikalisiert«, sagt Dr. Ulrich Neumann, Vorsitzender der Hamburger Kinderärzte. Er praktiziert seit 31 Jahren und wird täglich mit den Sorgen von Müttern konfrontiert. »Aber es ist normal, anders zu sein!« Dr. Neumann beklagt eine zunehmende Verunsicherung bei der Kindererziehung: »Viele Sorgen werden von anderen Müttern eingeredet, ›ach, deiner kann noch nicht krabbeln, das ist aber auffällig!‹« Mütter würden zudem mit pädagogischen Ratgebern, allmächtigen Supernannys und Medizinsendungen bombardiert. Von der Informationsflut überfordert und gelähmt machten sie dann oft entweder zu wenig oder zu viel. Ihr DNA-Upgrade trägt dabei schwer an den Erwartungen seiner Eltern. Im Gegenzug tragen Mütter die Hauptlast, für Erfolge in der Erbfolge verantwortlich zu sein – und geben den Druck weiter.
Ina W. lebt mit ihren drei Kindern, fünf, acht und 14, in Frankfurt. Die beiden Älte-ren besuchen nachmittags Kurse in der Volkshochschule für Kinder. »Kürzlich saß mein Achtjähriger neben einem Jungen und hat ihn gefragt, was er denn so mache. Darauf hat der geantwortet: ›Ich bin hochbegabt.‹« Was klinge wie ein Witz, sei in Bildungsbürgerkreisen aber Normalität, ebenso die Gesprächseröffnung beim Kinder-Small-Talk: »Bist du getestet?«, damit sei die Intelligenz gemeint. Und wer hat diese Kinder wohl testen lassen? Ihre Mütter, die nur das Beste für sie wollen. Und dabei die Beste sein. Genau die findet Ina W. am schrecklichsten: »Frauen mit Identitätsvakuum, die den Erfolgsnachweis der Kinder zur Bestätigung ihrer Mutterschaft brauchen!«
Das Kind soll schön und gut sein. Familienleben ist Lifestyle geworden, eine Endlos-Werbeschleife für die heile Innenwelt in der unsicheren Außenwelt. Die Kleindarsteller spielen dabei Hauptrollen. Jedoch das Kind nicht nur groß, sondern übergroß zu kriegen, ist ein Vollzeitjob, der von der eigenen Identität wenig überlässt. Deshalb empfinden Mütter Verhaltensweisen, die zur kindlichen Entwicklung dazugehören, schnell als Sabotage ihrer Erziehungsleistung. Der pädagogische Erfolg ist aber das Einzige, was ihnen bleibt, denn für das, was sie rund um die Uhr leisten, bekommen sie kaum Geld und selten Anerkennung. Das ist die Todesspirale fürs Selbstbewusstsein, die Mütter runterzieht in den Burn-out. Tröstlich ist da jede, die es noch schlechter hinzukriegen scheint; eine Tatsache, die auch die Beliebtheit von Erziehungssendungen im Fernsehen erklärt. Im Mobbing-Prozess Mutter vs. Mutter fallen harte Urteile.
• Mütter, deren Hausarbeit mangelhaft ist, scheuen Mütter, deren Wohnungen immer aufgeräumt sind.
• Gestresste Mütter von Kleinkindern hassen Mütter von erwachsenen Kindern, die ihnen im Supermarkt gütig die Hand auf den Arm legen und sagen: »Nachher tut es Ihnen leid. Sie ahnen gar nicht, wie schnell die groß werden!«
• Mütter unsportlicher/unmusikalischer Kinder hassen Mütter, die verlangen, dass ein Kind, das nicht so gut in Hockey/Blockflöte ist, nicht mehr mitspielen darf, »um die Leistung der Gruppe nicht zu schwächen«.
• Mütter, die für Wattepusten und Topfschlagen sind, meiden Mütter, die schon aus dem Geburtstag für Vierjährige »Events« machen.
• Das-kann-man-alles-waschen-Mütter hassen Mütter, die ihre Kinder nur im kompletten Label-Look aus dem Haus lassen, damit die Kinder daneben aussehen wie das spätere Personal.
• Mütter hassen die Mutter des Schulhofschlägers, die immer sagt: »Der Jonas ist nur so aggressiv, weil er hochbegabt und in der Schule total unterfordert ist!«
Mit das Beste am Erwachsensein ist, dass man aussuchen kann, mit wem man seine Freizeit verbringt. Das Schlimmste am Muttersein ist, dass diese Selbstbestimmung eingeschränkt wird, je kleiner die Kinder, desto stärker. Bei unvermeidlichen Doppel-Dates, verbringen Mütter, die sich nichts zu sagen haben, lange Nachmittage miteinander, weil sich ihre Kinder treffen wollen.
Emma B. aus Hamburg erinnert sich mit Schrecken an den Fünfjährigen, der wiederholt in ihren Garten pinkelte. Die Mutter des Jungen brach in Jubel aus: »Ist das nicht fantastisch?«, rief sie, »wie frei er ist! Wie unbefangen! Ist das nicht schön?« Und weil ihre Tochter Wert auf die Freundschaft des Jungen legte, fand Emma B. das auch schön. Zugunsten der Kinder bemühen sich Mütter um parallele Harmonie. »Es ist eine absurde Situation«, sagt Emma B. »Eigentlich kennt man sich kaum, aber weil man zwangsläufig so viel Zeit miteinander totschlägt, während die Kinder spielen, entsteht eine falsche Intimität, in der man einander mehr offenbart als angemessen. Dinge, die man von Fremden gar nicht wissen will.«
Als B. sich von ihrem Mann trennte und mit der Tochter aus dem Hamburger Elbvorort in einen anderen Stadtteil zog, war es aus mit der mütterlichen Gesellschaft: »Da fürchteten sie mich als schlechtes Beispiel und Konkurrenz, auch von befreundeten Müttern wurde ich nicht mehr eingeladen. Jetzt, wo in dieser Clique mehrere Ehen gescheitert sind, ist es wieder anders. Da nehmen sich die Mütter zusammen einen Babysitter und ziehen in die Nacht, um einen neuen Mann und Familienfinanzier zu finden.« Um den dann auch wieder konkurriert wird. Andere Mütter, andere Welten.
Karen H. aus Hamburg ärgert sich über berufstätige Mütter, die oft aus dem Büro bei ihr anrufen, ob sie die mit ihrer Tochter befreundeten Kinder mitnehmen oder abholen oder zum Abendessen behalten könnte, weil die Mutter noch einen wichtigen Termin habe. Meistens sagt Karen H. Ja, manchmal mit einem bitteren Unterton: »Einerseits hab ich oft das Gefühl, dass sie auf mich herabsehen, weil ich nur Mutter bin, und das auch noch für nur ein Kind. Auf der anderen Seite nutzen sie mich gern, wenn ihre Kinderfrauen oder Au-pairs sie im Stich lassen. Ich bin ja sowieso immer da, wie sie sagen.«
Ein Kind zu kriegen ist in dieser Gesellschaft meist keine logische Entwicklung eines Frauenlebens mehr, sondern ein per unterlassener Empfängnisverhütung gesteuerter Beitrag zur selbstverwirklichten Biografie. Daran ist ironischerweise auch die »Mein Bauch gehört mir« -Frauenbewegung schuld, die »bewusste Mutterschaft« als weibliche Kernkompetenz besetzte, um sich als moralisch bessere Menschen von der patriarchalen, berechnenden Karrierewelt der Männer abzuheben. Die Regierung Kohl nutzte das, um die knapp werdenden Arbeitsplätze für Männer zu sichern, indem die Mütter als unverzichtbar im trauten Heim weggelobt wurden. Die Psychoanalyse proklamiert die geglückte Mutter-Kind-Bindung als Grundlage für ein liebesfähiges Leben. Gute Erziehung wird dadurch immer mehr Privatsache der Mutter; eine trügerische Freiheit, die kaum Platz für berufliche Freiheiten lässt, die sich gut ausgebildete Frauen trotzdem leisten wollen oder müssen. Zumal dabei eine früher übliche Entlastung durch (Groß-)Familie oder Hausangestellte wegfällt. Statt dafür Politik und Gesellschaft stärker in die Pflicht zu nehmen, wie die Familienministerin Ursula von der Leyen es versucht, glauben viele Mütter immer noch, alles wäre »mit guter Organisation« machbar, wenn sie es doch nur »richtig« machen würden. Eine ist das schlechte Gewissen der anderen.
Hinzu kommt der zeitgeistige Glaube an die Machbarkeit von Schicksal. Da wiegt umso schwerer, dass es außer Liebe keinen Gold- standard gibt. Viele Mütter, vor allem die »späten«, halten mit dem eigenen Baby das erste überhaupt im Arm. So beobachten, bewerten, vergleichen sie das pädagogische Wirken ihrer Kolleginnen. Mütter, die Dinge ähnlich handhaben, sind Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein. Mütter, die Dinge anders machen, ein Angriff auf die eigenen Grundwerte.
• Kleinkind-Mütter, die im Drogeriemarkt vor den Gläschen stehen, hassen Mütter aus dem Schwangerschaftskurs, die mit »Waaas? Du fütterst schon zu?!« neben sie treten.
• Mütter, die trotz Kindern arbeiten wollen, hassen Mütter, die sagen: »Ich hab mir meine Kinder nicht angeschafft, damit andere sie großziehen!«
• Praktische Mütter hassen esoterische Mütter, die jede Marotte damit erklären, ihr Kind wäre ein spirituelles »Indigo-Kind« – unverstanden, weil viel zu gut für diese Welt.
• Alle Mütter auf Spielplätzen hassen Mütter, deren Kinder trotz deutlich sichtbarer Windpocken neben ihrem Kind schaukeln: »Ach, das ist längst nicht mehr ansteckend.«
• Eilige Mütter hassen Mütter, die mit Kinderwagen plus Kindern auf Rädern den Gehweg sperren: »Wir gucken uns nur eine Schnecke an!«
Abends, wenn die Spielplätze leer sind und die Kinder im Bett liegen, geht der Konkurrenzkampf der Mütter in einem der vielen Internet-Foren weiter. So schreibt im Mutterblog.de eine »Mama aus Leidenschaft«: »So, und morgen ist Basteln angesagt, Kevin bekommt Besuch und wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren.«
Model: Alina/Typeface; Styling: Kirsten Hermann/Brigitta Horwat; Danke an Pulver.