Ein Mann mit Vergangenheit

Vor Opa Erwin, dem übellaunigen Kerl, hatten die Enkel fast ein bisschen Angst. Erst viele Jahre später wurde klar: Im Dritten Reich war er ein Held. Er sprach nur nie drüber.

Mein Opa Erwin war ein verschrobener Griesgram. Er war nicht mein echter Opa, meine Mutter war seine Stieftochter. Sie und wir, die beiden angeheirateten Enkelkinder, interessierten ihn nicht im Geringsten. Wenn wir meine Oma Irmgard und ihn in der badischen Kleinstadt Bruchsal besuchten, verschanzte er sich im ersten Stock im Arbeitszimmmer mit seiner Zigarre hinter dem Schreibtisch. Meine Mutter wollte nicht hoch, meine kleine Schwester konnte noch kaum laufen, also musste ich zu ihm, um guten Tag zu wünschen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er aufgestanden wäre aus seinem Ledersessel, um mich zu begrüßen. Ich ließ eine Hand auf der Klinke hängen, die andere am Türstock, näher wagte ich mich nie heran. Ich grüßte, er blickte auf und nickte mir hinter der Rauchschwade zu, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen.

Das ist die einzige Szene, an die ich mich erinnern kann; er starb, als ich fünf war. Meine Großmutter hat mir etwas mehr von ihm erzählt, aber das machte ihn nur unwesentlich sympathischer. Es waren immer die gleichen drei Geschichten, die Oma wiederholte; ich kam nie auf die Idee, Fragen zu stellen. Ich weiß bis heute nicht, wie sich die beiden kennenlernten. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass meine Oma und der falsche Opa sich tatsächlich richtig geliebt hätten. Schon gar nicht, dass ihre Liebe selbst Auschwitz überlebte.

Omas erste Geschichte: Erwin, geboren 1883, wird 1907 als junger Assistenzarzt in Berlin dazu abkommandiert, Kaiser Wilhelm II. auf dem Schiff nach China zu begleiten. Der Kaiser traut sich vor Hongkong aus Angst vor Krankheit kein einziges Mal von Bord und bekommt dennoch die Ruhr. Erwin heilt den Kaiser und bekommt zum Dank eine goldene Uhr, die mir meine Oma achtzig Jahre später kurz vor ihrem Tod schenkt. Ich fand allerding nie einen Beleg für so eine Reise des Kaisers, auf der Uhr stand auch keine Widmung. Sie ist mir irgendwann gestohlen worden oder vielleicht habe ich sie auch selbst irgendwo verlegt. Gott sei Dank war Oma da schon tot, die Uhr war ihr heiligstes Familienerbstück.

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Omas zweite Geschichte: Erwin hängt während des Dritten Reiches an Hitlers Geburtstag die Reichsflagge des Kaisers aus dem Fenster und wird zur Strafe eine kurze Zeit zum Zwangsdienst als Arzt ins KZ Auschwitz versetzt. Wie lange genau, erzählte Oma nie.

Die dritte Geschichte: Erwin versteckt im KZ ein Kind unter seinem Bett, »er konnte den Jungen gut als Assistenten gebrauchen«, sagte Oma. Es hörte sich so an, als ob Erwin nur einen pragmatischen Grund für seine gute Tat gehabt hätte. Nach dem Krieg erhält er dafür jedenfalls das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Bei der Verleihung durch den Bundespräsidenten stürzt Opa betrunken vom Podest.

Meine Mutter kannte auch eine Geschichte: Er hat ihr als Kind öfter eine runtergehauen und sie in den Kohlenkeller geschickt, wenn er sie bestrafen wollte. Auch später, als Stiefvater eines pubertierenden Teenagers, war er völlig überfordert.

Erwin war sehr viel älter als meine Großmutter, zwanzig Jahre, er hatte - so weit wir wissen - keine eigenen Kinder. Oma hatte ihn erst nach dem Krieg geheiratet, als er schon Anfang sechzig war. Mit ihren ersten beiden Ehemännern hatte sie Pech: Der erste war ein kleiner Nazi, der für seine Partei viel unterwegs war. Sie verließ ihn und wurde Nummerngirl im Varieté, in Berlin, nehme ich an. Dort lernte sie Hans kennen, meinen leiblichen Großvater. Der war ein Weiberheld und Trinker, in dieser Reihenfolge. Was sie mir nicht erzählte: Oma heiratete Hans zweimal. Nachdem er sie verlassen hatte, nahm sie ihn noch einmal auf, und ließ sich abermals scheiden, weil sich nichts verändert hatte. Nicht mal meine Mutter wusste von der Doppelhochzeit ihrer leiblichen Eltern, so peinlich muss die meiner Großmutter gewesen sein.

Meine Mutter, meine Schwester und ich glaubten lang, dass Oma nach diesem Debakel den alten Erwin wahrscheinlich nur geheiratet hatte, weil sie im Alter finanziell abgesichert sein wollte und Liebe ihr nicht mehr so wichtig war. Oma nannte ihren dritten Mann »Vatl« und sprach nach dessen Tod oft davon, wie gut er sie mit seiner Pension versorgt hätte. Ihre Ehe war eine leidenschaftslose Zweckgemeinschaft, da waren wir uns alle sicher.

Von Opa Erwin blieb uns außer seiner goldenen Uhr nur das Foto von Omas Nachttisch: ein Schwarz-Weiß-Porträt, auf dem er lächelt. Ich habe ihn nie lächeln sehen. Er war in meiner Erinnerung der verschrobene, unnahbare Monarchist, kauzig auch in seinen Hobbys: Er züchtete Rosen und Bullterrier; einer schubste mich einmal in den Gartenteich. Seine Hunde waren genauso unfreundlich wie er. Er ist 86 Jahre alt geworden. Ich habe nicht geweint, als ich von seinem Tod gehört hatte. Fast hätte ich ihn vergessen.

Warum heiratet man so einen Mann? Wegen des Geldes, unterstellten die Enkelkinder ihrer Großmutter

Marinestabsarzt a.D. Dr. med. Erwin Valentin, bis ins hohe Alter kaisertreu und korrekt gekleidet.

Vor zwei Jahren meldet sich dann der Enkel eines Rechtsanwalts bei mir: Ob ich der Erbe von Opa Erwin sei? Ich muss nachdenken, bin ich wohl, gemeinsam mit meiner Schwester. Am Telefon erklärt mir der Enkel des Rechtsanwalts: Sein Großvater, Dr. Otto Stahmer, wurde bei den Nürnberger Prozessen zu Hermann Görings Pflichtverteidiger bestellt. Stahmer hatte sich als Anwalt einen tadellosen Leumund während des Dritten Reichs bewahrt, aber im Laufe des Prozesses war er mehr und mehr der Faszination seines Mandanten Göring erlegen.

Der Anwalt Görings hatte unserem Opa im Februar 1946 geschrieben, um bei ihm zu erfragen, ob Auschwitz denn wirklich so schlimm gewesen sei, er sei doch Häftling gewesen, und ob das gesamte deutsche Volk mitschuldig sei. Er wollte das wissen, um Görings Verteidigung vorbereiten zu können. Opa habe Otto Stahmer ausführlich geantwortet, erzählt der Enkel, und zwar dass Auschwitz noch viel schlimmer gewesen sei, als man sich vorstellen könne. Am Ende des Briefes an den Verteidiger berichtet er auch von einer Frau, die aus Liebe sogar ihr Leben für ihn riskiert habe: meine Oma.

Opa ein Held und Oma die große Liebe seines Lebens? Sprechen wir von den gleichen Personen? Im Winter 2012 überreicht mir der Enkel persönlich eine Kopie des acht Seiten langen, maschinengeschriebenen Briefes meines Opas, der seit 1946 unter mehreren Regalmetern Akten in Norddeutschland lag, bei einer Familie, die sich lange darüber uneins war, wie man am besten mit dem heiklen Prozessmaterial des Großvaters umgehen sollte. Die Originale wurden 1969 dem Bundesarchiv in Koblenz übergeben.

Den Brief beginnt Opa mit Höflichkeitsfloskeln - wie es ihn freue, dass Stahmer überlebt, wie ihn seine Anfrage erreicht habe, dass er gern seiner Bitte »um meine Stellungnahme« nachkomme, »zu der Frage der Schuld der Deutschen im Allgemeinen an den perversen Grausamkeiten der Naziverbrecher ...obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass meine Stellungnahme nicht nach Ihrem Sinn sein wird«.

Auf den folgenden zwei Seiten zunächst die Schilderung, wie er überhaupt nach Auschwitz gelangt ist - eine Geschichte, die sich stark von der Version unterscheidet, die meine Oma stets erzählte: der Zwangsversetzung, weil an Hitlers Geburtstag die Flagge des Kaisers aus Erwins Fenster hing.

Opa war »Halbjude« - schon das war mir neu. 1937 wird er bei der Ärztekammer als Jude denunziert, im Oktober 1938 muss er seine Berliner Praxis schließen. Er wird fälschlicherweise zum Volljuden erklärt und legt Einspruch bei Herrmann Göring ein, den »ich persönlich als gewesener Oberstleutnant kannte, als er noch mit ausgefransten Hosen über die Straße lief, nach dem ersten Weltkrieg«. Einer von Görings Adjutanten lehnt den Einspruch ab. Opa muss Geld verdienen und bewirbt sich als Arzt in dem »jüdischen Arbeitslager« Neutomischel in Polen. Er zeigt den dortigen Lagerführer an, SA-Oberscharführer Stülpnagel, weil der Lebensmittel für Lagerinsassen unterschlägt. Opa wird daraufhin in ein Lager nach Posen abkommandiert.

Er ist noch Freigänger, bis er dort von der SS am 23. August 1942 verhaftet wird, offensichtlich, weil er unerlaubt Polen behandelt. Er benennt den offiziellen Haftgrund in dem Brief nicht genau. Er wird in das berüchtigte Fort VII - Colomb, ebenfalls in Posen, eingeliefert - »als Arier und politischer Häftling«; er muss zehn Wochen heiße Ziegel aus der Brennerei schleppen; er beobachtet, wie die Gestapo Geständnisse in sogenannten Hundehütten erpresst: »80 cm hohe und 60 cm breite Verschläge unter der Treppe, deren Seiten und Oberwand sowie Fussboden mit Nagelspitzen benagelt waren. In diese Hundehütten wurden die Armen in vierfüssiger Stellung hineingeführt und ihnen der Frass zwischen die Hinterbeine geschoben. Ich habe nur einen gesehen, der es länger als zwei Tage ausgehalten hat, aber die Schreie dieser Menschen höre ich heute noch in der Nacht.« Mit stolzem Unterton schreibt Opa, dass er »beim Stubenappell durch den Leiter der SS Posen, SS-Obersturmführer Eberhard Freiherr von Stossberg« mit den Worten begrüßt wird: »Ach, das ist ja der Halbjude, der den Lagerführer angezeigt hat«.

Eine »glänzende Vorschule für Auschwitz« nennt Opa das Fort VII. Kein kranker Insasse wird je behandelt. Zum Morgenappell jagen scharfe Polizeihunde die Gefangenen auf einen vereisten Festungswall; wer nicht schnell genug ist, dem wird »in den Arsch« gebissen.

Am 20. April 1943 unterschreibt Ernst Kaltenbrunner, der nach dem Krieg in Nürnberg zum Tod verurteilt werden wird, einen Haftbefehl für Dr. Erwin Valentin, meinen Opa, der daraufhin nach Auschwitz transportiert wird, als Jude, mit Judenwinkel und der auf dem linken Arm eintätowierten Nummer 122660. Ich habe diese Nummer nie gesehen, und meine Großmutter hat mir nie davon erzählt. Und wieder erwähnt Opa im Brief keinen offiziellen Haftgrund. In Auschwitz bekommt er nach 15 Wochen Straßenbauarbeit eine Lungenentzündung, liegt drei Tage lang in Ohnmacht, magert von 86 auf 40 Kilogramm ab. »Der Lagerarzt Rohde, ein selten roher SS-Patron, liess den bereits erhobenen Daumen, dessen Fall nach links den Tod bedeutete, nach rechts sinken, als ihm der damalige Saalarzt Dr. Horwitz aus Berlin, als ich nackt vor ihm stand, gesagt hatte: ›Herr Lagerarzt, ich kenne den Mann aus Berlin, der war Athlet und wird sich wieder erholen. Und ausserdem ist er Chirurg und wir brauchen einen Chirurgen!‹ Somit war ich für diesesmal und für die folgenden Male gerettet und wurde dann als ›Pfleger‹, denn Ärzte gibt es keine unter den Häftlingen, eingesetzt und erhielt die Ambulanz des Krankenbaublockes Nr. 9 als mein Betätigungsfeld.«

Auf den folgenden drei Briefseiten beschreibt Erwin Gräueltaten und den KZ-Alltag in Auschwitz: »Die Verpflegung war geradezu schweinemäßig. Es gab nur Wasser mit Dreck oder Dreck mit Wasser.« - »Die SS frass uns die Kartoffeln weg.« Mithäftlinge verkaufen feste Schuhe gegen die tägliche Brotration von 250 Gramm. In den Kammern von Auschwitz lagern unermessliche Reichtümer, Habseligkeiten von Häftlingen, die eigentlich dachten, nur deportiert zu werden, nicht getötet. Erwin vermutet, dass einige Mithäftlinge und Gestapo-Leute Auschwitz als mehrfache Millionäre verlassen haben.

Drei Sätze in dem Brief beweisen den Enkelkindern, dass sich die Großeltern doch geliebt haben müssen

Irmgard war eine schöne Frau, als sie mit Anfang vierzig ihren dritten Ehemann Erwin heiratete, der zwanzig Jahre älter war als sie.

Im Winter müssen die Gefangenen nachts nackt zum Appell antreten. Das Kommando Sola-Brücke, benannt nach einem kleinen Fluss, hat die größte Anzahl »natürlicher« Todesfälle: Morgens rücken 300 Mann aus, abends kehren meist nur 100 zurück. Die verschiedenen Lager in Birkenau hält Opa Erwin für die schlimmsten, weil sogar Fußböden fehlen oder die Häftlinge in Zelten untergebracht sind. »Anfang 1944, als 600 000 ungarische Juden, Männer, Frauen und Kinder, nach Birkenau gebracht wurden, die Krematorien nicht ausreichten, so wurden noch zwei Scheiterhaufen mit Petroleum hinzugenommen.«

Opa beschreibt auch, wie die Gefangenen vergast wurden: »Die ahnungslosen oder auch ahnungsvollen Opfer wurden in den ersten Raum gejagt mit vorgehaltenen Maschinengewehren ..., mussten im ersten Raum sich vollkommen entkleiden, wenn sie dann in den nächsten Raum, einen einfachen Blechraum hineinkamen, so trat die erste Unruhe ein, weil sie in diesem Raum keinen einzigen Wasseranschluss sahen. Sowie der Raum gefüllt war, strömte aus dem unter dem Dach befindlichen Ventil das Zyklongas ein, und nach einer halben bis zwei Minuten waren die Menschen hinüber. Es gab auch Vergasungen kleineren Stiles ...«

Am 25. Januar 1945 soll Opa mit den letzten überlebenden 3700 Häftlingen aus Auschwitz »evakuiert« und damit wohl erschossen werden. Aber der SS-Verband aus Kattowitz rückt unverrichteter Dinge ab, da die russische Armee schon kurz vor Auschwitz steht. Opa behandelt verletzte russische Soldaten, am 29. Januar verlässt er mit 14 österreichischen Mithäftlingen zu Fuß das Lager Richtung Krakau. Dort verarztet er nochmals russische Soldaten. Am 31. Januar, also noch vor Kriegsende, gibt er eine eidesstattliche Erklärung zu den Menschenrechtsverletzungen in Auschwitz ab, die Alliierten denken bereits an einen internationalen Gerichtshof. Sein Protokoll wird in Berlin ausgehängt, in einer russischen Zeitung veröffentlicht, im englischen Radio vorgelesen.
- »Daher wussten viele meiner Freunde, dass ich der Hölle von Auschwitz lebend entkommen war.« Auch Oma wird so von seinem Überleben erfahren haben.

Über Bukarest und Wien kehrt er sechs Monate nach Kriegsende am 23. November 1945 nach Berlin zurück. »Abgesehen von den mir im K.Z. ausgeschlagenen und ausgetretenen 22 Zähnen, für die ich jetzt endlich Ersatz zu bekommen hoffe, bin ich gesund und will nochmals versuchen, eine Praxis wieder aufzubauen.«

Am Ende des Briefes erwähnt Opa sarkastisch, dass jetzt alle behaupteten, von nichts gewusst zu haben: »Ich bin fest überzeugt davon, dass auch der blutigste aller S.S. Verbrecher, Himmler selbst, wenn er noch lebte, erklären würde, dass er von nichts gewusst hätte, obwohl wir genau wissen, dass er nicht nur im Winter 1941/42 eine Vergasung in Auschwitz mitangesehen hat, sondern sich auch die letzte Vergasung in Auschwitz am 17. Oktober 1944 noch mit ansah mit grossem Gefolge!« Auch Göring habe natürlich von allem gewusst.

Ein Jahr nach Kriegsende bringt Erwin in seinem Brief an Otto Stahmer auch die Schuld der Deutschen zur Sprache, und in dem Zusammenhang schreibt er auch eine kleine Passage über meine Großmutter, die mein ganzes Bild von ihr und ihrer Beziehung mit ihm auf den Kopf stellt: »Nur ein ganz kleiner Teil des deutschen Volkes steht in meinen Augen ... als unschuldig da, jene, die wirklich nichts wussten, und jene, die es wussten und unter eigener Lebensgefahr durch Briefe oder Päckchen, die sie an uns noch in das K.Z. schickten, unter Beweis stellten, dass sie anti-hitlerisch und damit antifaschistisch waren. Die Frau, die ich demnächst nach ihrer hoffentlich nicht zu lange dauernden Scheidung heiraten werde, hat so zu mir gehalten und mir dauernd Päckchen und Briefe geschickt, obwohl es für sie stets gefährlich war. Und, wenn ich auch dank der Gemeinheit der S.S. und der alten Spitzbuben von Mithäftlingen, die auf der Paketstelle im Lager sassen, nur ein einziges Päckchen erhalten hab, so habe ich ausser ihrem Wort Zeugen für ihre Taten! Und wie diese meine zukünftige Frau gibt es Tausende, die ihre Überzeugung durch die Tat bewiesen haben.«

Die Andeutung des Enkels von Otto Stahmer stimmte also tatsächlich: Meine Großmutter war die große Liebe in Erwins Leben, und er offenbar auch für sie. Wie heroisch er meine Oma schildert, obwohl sie ihm doch nur Päckchen geschickt hat. Wie stolz er auf sie ist.

Drei Sätze, die Erwin über Oma in dem Brief fallen lässt, drei Sätze, die zeigen, dass meine Mutter, meine Schwester und ich die Liebe zwischen den beiden immer verkannt hatten, genau wie Opa Erwin, der nicht etwa ins KZ strafversetzt wurde, weil er ein kauziger Monarchist gewesen wäre (das sicherlich auch), sondern weil er Jude war. Ich verstehe nun, dass jemandem, der so viel Schreckliches erlebt hat, nicht danach war, mit Enkelkindern zu spielen. Ich glaube sogar, seine merkwürdigen Hobbys irgendwie nachvollziehen zu können: Rosen und Bullterrier, die Schönen und die Biester.

Ich habe auch meiner Oma Unrecht getan, ich mochte sie zwar immer sehr gern, hielt sie aber immer für eher opportunistisch. Wer weiß, ob sie sich tatsächlich in Gefahr gebracht hat durch Post nach Auschwitz, aber immerhin hat sie auf Erwin gewartet - mindestens zwei Jahre lang ohne Nachricht.

Warum hat uns niemand von Opa Erwins Jahren in Auschwitz erzählt? Hat er die Details des erlebten Grauens auch seiner Frau verschwiegen? Um sie zu schonen? Um sich selbst zu schonen? Hat vielleicht sie wiederum nur ihre Tochter und später dann uns Enkelkinder mit der genaueren Schilderung verschonen wollen? Hat meine Oma vergessen, wie furchtbar Auschwitz für Opa war? Wollte einer von beiden oder wollten beide gemeinsam darüber schweigen, um eher vergessen zu können? Gab es sogar eine Abmachung zwischen den beiden?

Die Unfähigkeit zu trauern nannten Alexander und Margarete Mitscherlich, die Psychoanalytiker, 1967 ihr großes Buch über die unzulängliche Vergangenheitsbewältigung einer ganzen deutschen Kriegsgeneration, sie schrieben das Buch über die Mitwisser und Täter. Aber auch nicht alle Auschwitz-Überlebenden konnten nach dem Krieg über ihre Erlebnisse sprechen. Und wer wollte schon ernsthaft einem Mann, der selbst so viel Leid erlebt hatte wie Erwin, Vorschriften machen, wie er das erlebte Grauen zu bewältigen habe?

Oder gab es einen ganz banalen Grund für Omas und Opas Schweigen? Oma war schon getrennt von Hans, ihrem zweiten Mann, aber noch mit ihm verheiratet, als sie schon um Erwins Leben in Auschwitz fürchtete. Vielleicht wollte sie uns glauben machen, sie hätte ihn erst nach Auschwitz kennengelernt. Anders wäre es ja nicht schicklich gewesen.

Hätten die beiden uns oder zumindest meiner Mutter mehr davon erzählt, wenn sie gewusst hätten, wie wenig wir von ihrer Ehe hielten?

Bei seinem eigentlichen Adressaten kann der Brief keinen großen Eindruck hinterlassen haben. Von Dr. Otto Stahmer ist sogar eine öffentlich geäußerte Bemerkung aus den Sechzigerjahren überliefert, dass sein Mandant Hermann Göring im Grunde ein anständiger Kerl gewesen sei.

Erst nachdem ich den Brief gelesen hatte, konnte ich mich daran erinnern, wie liebevoll Oma einmal von Opa Erwins Tod erzählte: 1969 setzte er sich neben sie auf die Stufen vor ihrem Haus. Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter, sagte: »So müde«, und schon war er tot.

Illustration: Paul X. Johnson