Am Ende des Tages, der sich anfühlte wie ein irrer Traum, saß ich in der Hotelbar, es war bald zwei Uhr, aber weil direkt über dem Hotel zwei Polizeihubschrauber donnerten, konnte ich nicht schlafen. Ich gähnte und starrte in mein Telefon, irgendwo hinter mir ging eine Tür auf. Ein Polizist kam herein, dann noch einer und noch einer und noch einer, eine endlose Schlange, eher langsam, aber in voller Einsatzmontur, alle eine Handbreit an mir vorbei, ich dachte: Scheiße, wir werden gestürmt. Die Polizisten liefen zur Rezeption, stellten sich dort an, und wir wurden nicht gestürmt. Die wohnten hier.
Leider hätte ich mir da ein sehr ungünstiges Wochenende ausgesucht, schrieb der Makler auf meine Frage, ob er am 7. oder 8. Juli einen Termin frei habe für die zwei Zimmer mit Balkon und Tageslichtbad am hinteren Ende von Altona. »Dann ist hier alles verriegelt und verrammelt«, schrieb er.
Dass an diesem Wochenende in Hamburg die Staatschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer tagen und über Wirtschaftswachstum, Klimaziele und die Regulierung der Finanzmärkte sprechen würden, klar, das wusste ich. Aber was hatte das mit mir zu tun? Ich würde bald einen neuen Job in Hamburg antreten, ich brauchte eine Wohnung, jetzt war ich für meinen alten Job auf Dienstreise dort. Weil es schwer würde, von München aus eine Wohnung in Hamburg zu finden, verlängerte ich diese Dienstreise um zwei Tage. Um die zwei Tage, an denen Hamburg ganz andere Sorgen hatte, als dass ich dort wieder heimisch werden wollte.
Eine Freundin schickte mir ein Foto einer Kolonne von Polizeiwagen, geparkt vor einem Sportgeschäft am Hauptbahnhof, die Schaufenster mit Holzplatten vernagelt: »Willst du wirklich kommen?« Zu spät, jetzt war ich da. Gekommen in der kreuzbürgerlichen Absicht, meine künftige Normalität zu organisieren. Aber Hamburg hatte sich in eine sehr unbürgerliche Parallelwelt verwandelt.
Und wenn man all die Probleme, die es an diesem Wochenende in Hamburg gab, auf einen Punkt bringen will, dann war es vielleicht genau dieser: Alle waren wie ich. Jeder dachte an sich, ohne nach links und nach rechts zu schauen. Die Politiker, die Demonstranten, die Polizisten, ich.
Ich lief durch das Schanzenviertel, wo ich früher schon mal gewohnt hatte, vorbei an Restaurants und Kneipen, die gerade erst aufgemacht hatten, weil bis vor einer halben Stunde vor ihrer Tür noch Randale gewesen war. Ich merkte, dass es unter meinen Schuhen knirschte, und sah, dass der BMW neben mir keine Scheiben mehr hatte. Je länger ich herumlief wie einer, der als Einziger nach dem Weltuntergang über das Ende der Zivilisation nicht informiert wurde, desto mehr fiel mir auf, wie verquer es wirkte, was hier passierte: Eine Stadt wird drei Tage lang stillgelegt für einen Gipfel, in dem es um die Spielregeln einer freien und möglichst friedlichen Welt geht. Und nicht irgendeine Stadt, sondern die mit der größten linksautonomen Szene. Menschen zünden als Protest gegen die Weltpolitik in Wohnvierteln Autos an, die auf Anwohnerparkplätzen stehen, werfen Steine als Protest gegen bewaffnete Gewalt und protestieren gegen Kapitalismus, indem sie eine Drogerie im Schanzenviertel plündern. Mehr als 30 000 Polizisten erzeugen im Zeichen des Friedens und der Freiheit ein Gefühl maximaler Konfrontation. Mit dem Hamburg, das ich kannte, hatte diese Stadt nur noch die äußere Hülle gemeinsam. Hamburg und ich würden einiges zu bereden haben.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, war ich der einzige Gast in Zivil, alle anderen: Polizisten, wieder in Einsatzmontur, die an Vierertischen saßen und friedlich Marmeladenbrote kauten. Ich fand einen freien Platz am Fenster, Minuten vergingen, dann klingelte ein Handy, jemand rief: »Einsatz am Fischmarkt, beeilt euch mal!« Zehn Sekunden später war der Raum leer, bis auf mich und die Kellner. Einer der Polizisten kam dann noch mal zurück, er hatte seine Stullen vergessen.
Die Wohnung habe ich nicht angemietet, ich konnte sie nicht einmal besichtigen.
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