Apfelkuchen. Zwei Stück Apfelkuchen mit Sahne stehen auf dem Tisch. Daneben Kaffee, Milch, ein Becher mit Zucker. Rechtsanwalt Jürgen Stoffers erzählt von seinem Sohn. Wie sie beide in einem Café gesessen haben, damals an einem Sonntag Ende der achtziger Jahre. Und wie groß der Jürgen-Marcel da schon war. Neun Jahre alt. So selbstständig. Kurz darauf schweigt Rechtsanwalt Stoffers. Ein Kinderschänder hat seinen Sohn ermordet. Mit einem Messer. Das war vor 17 Jahren. Stoffers sieht die Wunden immer noch. Da, wo die Klinge eindrang. Er schlägt seine Faust an die Schläfe, zweimal, und zwischen die Augen, einmal. Stoffers Augen sind trüb. In den Ermittlungsakten sind 19 Stiche dokumentiert. Sie gingen ins Gesicht, in den Hals, in den Brustkorb, in den Unterleib. Durch das Fenster sieht man auf eine stille Nebenstraße irgendwo im Ruhrpott. Es regnet, wie eigentlich immer um diese Jahreszeit. Eine Eisenbahnbrücke in Bottrop. Auf der anderen Seite war mal die Kokerei Jacobi. Hier gab es eine Backsteinmauer, da waren Schienen und stinkende Öfen. Es gab einen Betonbunker und einen Bach. Der Morgen des 31. Januar 1989 war kalt. In den USA trat George Bush senior gerade sein Amt als Präsident an, in Bottrop begann der Straßenkarneval. An der Eisenbahnbrücke wurde der Sohn von Rechtsanwalt Stoffers gefunden. Tot, in vier grünen Müllsäcken, drei über dem Kopf, einer über den Beinen. Ein Polizist hatte den Jungen unter einem Haufen grauer Wackersteine entdeckt. Nach ein paar Tagen verschwand der Mord aus der Lokalpresse. Autofahren sei heute das Gefährlichste für ihn, sagt Stoffers. Die langen Fahrten durch die Nacht, wenn die Gedanken fließen. Wie wäre es jetzt mit dem Jungen? Er könnte vielleicht Student sein. Was studiert er? Die Bilder des letzten Abschieds. Eine Umarmung, ein Versprechen: bis heute Abend. Ein Badeausflug. Ein Urlaub. Kinderlachen. Eis essen. Verstecken spielen. Ein Morgen im Bett. Vorlesen. Die erste Krankheit. Zusammen Fahrrad fahren. Toben. Dazwischen die Mörderfratze. Blutige Wunden. Die Gedanken vermischen sich zu einem Gefühl. Es drückt auf den Bauch, auf die Schläfen. Dann tauchen Bäume aus der Nacht auf, Lichter huschen über Brückenpfeiler. Einmal Lenken und das Ganze hätte ein Ende. Rechtsanwalt Stoffers blieb bisher auf der Straße. Der Mord an seinem Sohn hätte verhindert werden können, sagt Stoffers. Der Täter heißt Lothar Otremba, damals 23, einschlägig vorbestraft. Otremba hat tiefe Aknenarben und einen schwarzen Schnauzbart. Sein damaliges Gewicht: 81 Kilo. Körperbau: muskulös. Seit seinem 14. Lebensjahr hat er mindestens 13 Kinder missbraucht, alle aus der Gegend. Den Sohn vom Schuldirektor hat er genommen. Den Jungen vom Metzger. Und ein paar Kinder aus einem Heim die Straße runter. Ein Serientäter. Zum Schluss war Otremba Gärtner auf dem städtischen Friedhof, eine ABM-Stelle. Er lebte in einer Bergarbeitersiedlung bei seinen Eltern, keine zehn Minuten vom Tatort entfernt. Stoffers kann über seine Gefühle reden, jetzt, so viele Jahre nach dem Mord. »Die Zeit läuft nicht weiter«, sagt er. Die Wunden heilen nicht. Jedes Jahr hat den gleichen Ablauf. Es kommen Geburtstage, Namenstage, Weihnachten, Ostern, die Sommerferien, und mit den Wiederholungen kommen die Erinnerungen. Gerade Verschorftes reißt wieder auf. Die Gefühle leben weiter: Zweifel, Angst, Ohnmacht, Sorge und das Leiden. Nichts verschwindet. »An Jahrestagen fahren wir eigentlich immer weg, versuchen zu flüchten. Nur weg von diesen Orten, wo wir an ihn denken.« Das Ziel ist es, über den nächsten Tag zu kommen. Wenn wir heute nicht zerbrechen und morgen auch nicht, können wir in der Zwischenzeit leben? Die Nachbarn sagen, Jürgen-Marcel sei ein fröhlicher Junge gewesen. Er sei gern auf seinem roten Rennrad durch die Gegend gefahren. Und er habe sich für Steine interessiert. In Bottrop findet man seltsame Abdrücke von Tieren und Pflanzen aus der Kreidezeit. Auch an Otremba erinnern sich die Nachbarn. Ein Rentner erzählt, dass er den Lothar oft gesehen habe, wenn er von der Arbeit kam. »Da ist er mit dem Fahrrad rumgefahren. Hinter den Blagen her.« Eine Frau hat mit dem Lothar gespielt, damals als Kind. »So richtig gehörte er nicht zu uns, aber die Mutter hat ihm Geld für Zigaretten gegeben. Deshalb haben wir ihn mitgenommen, auf den Spielplatz.« Was Schlimmes hat sich niemand gedacht. Ein Nachbar: »Der Lothar war immer still und hat vor sich hin gelächelt.« In der Siedlung nannten sie ihn deshalb »den lachenden Vagabund«.
Es gibt so viel zu sagen. Jürgen Stoffers schweigt. In seinen Augen stehen Tränen. »Wofür mache ich das? Wofür lebe ich?«, fragt Stoffers. Er ist Rechtsanwalt in Oberhausen. Er arbeitet viel. Um zu vergessen, sagt er. Seine Frau hat sich in ärztliche Behandlung begeben. Ein Loch ist in ihre Seele gerissen. Es will nicht heilen. Sie schweigt jetzt lieber. Das Ehepaar hilft ab und an Kindern aus einem Heim, ein paar Straßen weiter. Aber es ist nicht dasselbe. Es sind nicht seine Jungs. Stoffers denkt an sein Erbe. Das Heim könnte vielleicht mal alles bekommen. Oder eine Stiftung. Oder die Kirche. Irgendwer. Nur nicht der, für den es gedacht war. Lothar Otremba wurde am 29. Juni 1965 geboren. Er wuchs in Bottrop auf. Im Wald hinter der Grundschule fing es an. Hier zwang Otremba kleine Jungs, Pfennige in die Hosentaschen zu stecken. Dann holte er die Pfennige raus und ließ dabei seine Hände über die Körper gleiten. Später blieb es nicht beim Befingern. Otremba machte eine Ausbildung als Tankwart. Und trank regelmäßig. Im Stadtpark holte er damals seinen Schwanz raus. Zwischen Dezember 1980 und März 1981 konnten ihm fünf Missbrauchsfälle nachgewiesen werden. Im Gerichtsverfahren kurze Zeit später stellte ein Gutachter fest: »Die soziale Prognose des Jugendlichen erscheint vorläufig als ungünstig. Sein Alkoholgenuss verstärkt die Gefahr, dass er bei einer Wiederholungstat die Kinder nicht nur durch Verführung zur Perversität erheblich schädigt, sondern eventuell zusätzlich durch gewalttätige Handlungen, die dem Zweck dienen, eine Entdeckung und erneute Bestrafung zu verhindern.« Otremba war da 16 Jahre alt. Eine Karriere in geschlossenen Psychiatrien begann. Zwischendurch kurze Aufenthalte in Freiheit. Zeit für neue Verbrechen. 1985 missbraucht er innerhalb von drei Monaten sechs Kinder. Am Fernmeldeturm Katzenbruch zerrt er einen Jungen vom Fahrrad und flüstert ihm ins Ohr: »Willst du bluten?« Dann schlägt er ihm ins Gesicht. Und vergewaltigt ihn. Am 4. Februar 1987 urteilt das Jugendschöffengericht II am Amtsgericht Duisburg: »Otremba ist eine ständige Gefahr für die Allgemeinheit.« Das Gericht lässt den Serientäter auf unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Anstalt wegschließen. Trotzdem kann Otremba zwei Jahre später Jürgen-Marcel umbringen. Warum? Die Antwort findet man beim Rechtsanwalt Paul Scheidt aus Bottrop. Der Jurist bestellte im Auftrag von Otrembas Mutter im Oktober 1987 einen Gutachter, der eine »günstige Prognose« sah. Die früheren Taten, alles nur Irrungen der Pubertät. Und weiter: »Ich bin der Ansicht, dass es zu verantworten ist, Herrn Otremba zu entlassen.« Es gab Gegenstimmen. Der behandelnde Arzt in der Klinik Eickelborn riet dringend von einer Entlassung ab: »Es sind weitere einschlägige Taten zu erwarten.« Es spielte keine Rolle mehr. Am 27. Januar 1988 verfügte das Landgericht Duisburg die Entlassung des Serientäters. Erst nach dem Mord erzählte Otremba einer forensischen Gutachterin von seinen Träumen. Von Jungs in engen Badehosen, von abgerissenen Hoden und solchen Dingen. Inzwischen wohnt Rechtsanwalt Scheidt nicht mehr in Bottrop. Sein Nachfolger in der Kanzlei sagt, er sei nach La Palma ausgewandert. Ruhestand genießen. Otrembas Gutachter ist vor ein paar Jahren gestorben. Auch Rechtsanwalt Stoffers und seine Frau Lieselgunde haben mal daran gedacht, aus Bottrop wegzuziehen, wo alle so nah aufeinander sitzen. Die Nachbarn, die Bekannten, die Eltern des Mörders und des Opfers. »Aber man kann nicht vor seinen Erinnerungen wegziehen«, sagt Stoffers. Jetzt haben sie ihre Wohnung renoviert, einen Wintergarten angebaut. Jürgen-Marcels Zimmer haben die Stoffers so belassen, wie es damals war. Ein Stillleben der Sehnsucht. Im Kleingartenverein Beckramsberg hört man einen Rasenmäher. Es ist kurz nach der Mittagszeit. Rechts führt eine Gasse zur »Kornkammer«, links in den Pilzweg. Keine dreißig Schritte von hier hat Jürgen Stoffers in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1989 das rote Rennrad seines Sohnes gefunden. Es lag in der Böschung runter zu den Schienen der alten Industriebahn. Jürgen-Marcel sollte um 18 Uhr zu Hause sein. Nachbarn sagen, man habe sich immer auf den Jungen verlassen können. Um 19 Uhr meldete Lieselgunde Stoffers ihren Sohn als vermisst, wenig später begann die Suche. Am nächsten Tag wurde der Junge tot gefunden. Kurz darauf erklärte ein Polizist aus Bottrop, in der Nähe wohne ein junger Mann, der früher einschlägig aufgefallen sei. Am Abend besuchten Ermittler das Elternhaus Otrembas. Der Sohn war nicht da. Noch in der Nacht stellte sich der Serienvergewaltiger in Begleitung eines Rechtsanwalts.
Das Grab von Jürgen-Marcel liegt auf dem Bottroper Westfriedhof. Ein Bronzekind mit den Gesichtszügen des Jungen, Spielzeug und Stofftiere. Drei Schritte breit, sechs Schritte lang. Der Rasen vor dem Grab ist abgelaufen. Rechtsanwalt Stoffers und seine Frau kommen nur noch abends hierher oder frühmorgens. Wenn niemand da ist. Das »Bedauertwerden« laste auf einem, sagt der Vater. »Aber manchmal, wenn ich in Gedanken laufe, weil ich keine Ruhe finde, dann stehe ich plötzlich vor dem Grab.« Rechtsanwalt Stoffers sagt, es fehle jemand, der nicht fehlen darf. Die Alten müssen sterben, irgendwann, das ist richtig. Jetzt ist alles durcheinander. In der Todesanzeige für ihren Sohn schrieben die Stoffers: »Eine Bestie hat uns durch einen grausamen Mord unser Liebstes, unseren Sonnenschein genommen.« Das Leben ist dunkel. Die Hoffnung auf einen besseren Morgen ist weg. Kein Kinderlachen, kein Enkellachen. Jeder neue Tag ist nur ein Tag mehr in der Vergangenheit. Die Otrembas sind einfache Leute. Der Vater war Bergmann auf einer Bottroper Zeche. Die Mutter Hausfrau. Beide kamen in den fünfziger Jahren aus Oberschlesien. Drei Kinder haben sie. Die beiden Mädchen wurden Verkäuferinnen in einer Trinkhalle. Und eben der Junge. Mutter Otremba habe den kleinen Lothar besonders geliebt, sagen die Nachbarn. Was heißt besonders? Da ist diese Sache mit dem Affen, die Otremba den Ermittlern erzählte. Als er 14 Jahre alt war, wollte Otremba einen Affen. Die Mutter hat ihn gekauft. Einen Kapuziner im Wert von 1500 Mark, fast so groß wie ein kleiner Junge. Das Tier kam in den Keller, in einen zwei Mal zwei Meter großen Käfig. Eigentlich wollte Otremba ja einen Schimpansen haben, aber das war zu teuer. Stundenlang saß Otremba vor den Gitterstäben und sah dem Affen zu, »wie er onanierte«. Die Mutter hat das Tier verkauft, als Otremba in die Klinik kam. An der Brücke zur Kokerei Jacobi steht heute ein Wegekreuz. Daneben ein Granitstein und eine Bronzetafel: »Jürgen-Marcel wurde im Alter von 9 Jahren am 30.1.89 nahe dieser Stelle ermordet. Wir gedenken seiner in Liebe.« Sonst erinnert hier wenig an damals. Die Kokerei ist verschwunden. Die Backsteinmauer ist weg. Selbst die Schienen gibt es nicht mehr. Die Zeit hat das Gesicht der Gegend verändert. Nur wer sucht, findet noch Spuren. Unter den Brückenpfeilern liegen die Wackersteine, unter denen der Junge verscharrt lag. Aus den Ermittlungsakten lässt sich der Tathergang rekonstruieren: Am Abend des 29. Januar 1989 war Otremba zu Hause. Spätabends trank er eine Flasche »Frühstückskorn«, danach schlief er ein. Am 30. Januar stand Otremba um 5:30 Uhr auf. Er trank bis gegen 11 Uhr Asbach mit Cola. Um 13 Uhr verließ er das Haus. Auf dem Fahrrad fuhr er in den Stadtpark. Otremba erzählte den Ermittlern, er habe »nach Jungs gesucht, denen ich auf die Hose schauen kann«. Er folgt zwei Frauen mit ihren Söhnen, beide etwa zehn Jahre alt. Otremba hat ein Messer bei sich, Klingenlänge 14 Zentimeter. Und vier Müllsäcke. Otremba geht zum Friedhof, wo er seinen letzten Job hatte. Hier trifft er zufällig Jürgen-Marcel. Der Junge will Steine suchen. »Ich kann dir zeigen, wo man was Spannendes findet«, sagt Otremba. Jürgen-Marcel geht mit. Sie gehen die Schienen entlang, nähern sich der Eisenbahnbrücke. Otremba stürzt sich auf das Kind. Nach der Tat bleibt er auf dem Jungen liegen. Otremba erzählt, das Kind habe zuvor gefleht: »Sie können mein ganzes Geld haben, aber bitte tun Sie mir nichts.« Dann habe Jürgen-Marcel geweint, sagt Otremba. Warum hat er das Kind ermordet? Der Junge habe gesagt, er leide an Aids. »Da bin ich wütend geworden«, sagt Otremba. 17 Jahre sind vergangen. Rechtsanwalt Stoffers sitzt in einem Haus irgendwo im Ruhrgebiet und denkt darüber nach, was passieren würde, wenn er Otremba jetzt begegnen würde. Stoffers hat graue Haare, hängende Schultern und die mageren Hände eines Mannes, der mit Büchern arbeitet. »Ich würde ihn totschlagen«, sagt er spontan. »Danach wäre er wenigstens keine Gefahr mehr.« Es regnet weiter im Ruhrgebiet.