Plötzlich stand meine jüngere Tochter im Arbeitszimmer, ihre Augen vor Begeisterung weit aufgerissen. Aber diesmal verlangte sie nicht buntes Bastelpapier, Locher oder Schere. Mit festem Ton forderte die Fünfjährige: »Komm, Papa! Wir zocken!« Sie will – was? Nun, das »Zocken« hat sie von ihrer großen Schwester gelernt. Während der Fußball-EM im Sommer war es die große Mode auf deren Schulhof. Zocken geht so: Man breitet eine Handvoll Panini-Fußballbildchen vor sich aus (der kleineren Tochter ist egal, dass die Europameisterschaft längst rum ist) und versucht, sie umzudrehen, indem man draufschlägt. Das funktioniert tatsächlich. Man muss nur die Hand möglichst schnell wieder hochreißen, der Luftzug wirbelt die Ballack- und Ronaldo-Porträts in die Höhe. Wer ein Bildchen derart auf die Kehrseite bringt, der kriegt es vom Gegenspieler.
Die Kleine ist beim »Zocken« große Klasse. Gekonnt patscht sie mit ihrem Händchen auf die Bilder und wirbelt sie reihenweise um. Da packt auch mich der Ehrgeiz, und ich probiere alle möglichen Handhaltungen und Schlagtechniken aus, um in diesem Spiel zu bestehen. Inzwischen macht es mir richtig Spaß. Aber nun mal ganz nüchtern betrachtet: Was passiert hier eigentlich? Zwei Menschen, fünf und 43 Jahre alt, sitzen zusammen auf dem Boden, klatschen mit den Händen auf Abziehbildchen, die Kleine vor Glück jauchzend, wenn sich ein Bildchen umdreht, der Große haut sich die Knöchel wund. Ist das nicht völlig vergeudete Zeit?
Ist es nicht, sagen Wissenschaftler. Glaubt man einer zunehmenden Zahl von Biologen, Psychologen und Anthropologen, so ist Spielen keineswegs nur ein probates Mittel, damit Kinder ein bisschen Dampf ablassen oder nicht zu Fernsehpummeln verkommen. »Menschen können ohne Spiel schlichtweg nicht existieren«, sagt Rainer Buland, der am Salzburger Mozarteum das Institut für Spielforschung leitet, »es gehört zum Menschsein wie der Atem.«
Der Berliner Kulturanthropologe Christoph Wulf sagt, im Spiel und seinen Ritualen entstehe überhaupt erst Neues. Und der Münchner Psychologe Rolf Oerter erkennt im Spielen gar den Ursprung aller Kunst und Kultur: »Spiel ist die Basis für die kulturschaffende Kraft der Menschheit«, neben der Arbeit also die wichtigste Komponente des Lebens.
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Thesen, denen man sich nur zu gern anschließen und sie all denjenigen hinwerfen würde, die unter Bildung nur das akribische Aufforsten des Lebenslaufs verstehen: Schule, Klavierkurs, Ballett und eine dritte Fremdsprache möglichst noch vor der fünften Klasse. Die Verfechter des freien Spielens treffen ins Herz vieler Eltern und Lehrer, die mit Sorge beobachten, wie das Leben der Kinder in Zeiten von Pisa und G8 institutionalisiert wird.
Auch Naturwissenschaftler finden Beweise für die Bedeutung des Spielens. Sie blicken dazu vor allem ins Tierreich, schließlich lassen sich Menschen nicht unter Laborbedingungen aufziehen oder gar das Gehirn sezieren. Und sicher ist: Auch Tiere spielen.
Von Hunden und Katzen ist das weithin bekannt.
Der amerikanische Evolutionspsychologe Gordon Burghardt von der University of Tennessee zeigt auch gerne einen Filmausschnitt, auf dem ein Komodowaran ihm schelmisch ein Taschentuch aus der Hosentasche klaut. Wohlgemerkt: Dieses Reptil kommt daher wie ein übrig gebliebener Dinosaurier: Bis zu drei Meter lang werden diese drachenartigen Tiere, und ein Biss mit ihrem Maul kann tödlich sein, weil ihr Rachen ein Tummelplatz grausiger Bakterien ist. Doch in dem Filmchen von Gordon Burghardt hat das Tier offensichtlich Spaß an seinem Streich.
Auch einer im Alter zunehmend gelangweilten Schildkröte hat Burghardt neuen Spaß am Leben verschafft. Mit Bällen, Ringen und Stöcken ausgestattet, verbrachte das Reptil plötzlich ein Fünftel seiner Zeit mit Spielen. Wie Schildkröten spielen? Zum Beispiel, indem sie den Ball im Wasser vor sich her stupsen.Das jedoch erschreckt Evolutionsbiologen: Kann es sein, dass alle höher entwickelten Lebewesen einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit mit einer komplett nutzlosen Tätigkeit verplempern? Bietet Spaß einen evolutionären Vorteil? Hätten die gnadenlosen Mechanismen von Mutation und Selektion einen solchen Unsinn nicht längst aus der Biosphäre verbannen müssen? Noch schlimmer: Gerade in jungen Jahren, in denen Tiere wie Menschen am meisten spielen, kann es sogar lebensgefährlich werden. Acht von zehn Robbenkindern kommen um, weil sie beim Herumtollen ihre Fressfeinde nicht bemerken. Das klingt nicht so, als besäßen diese Kreaturen eine hohe Überlebenschance im Wettkampf der Evolution.
Doch es gibt sie noch, die Robben, und sie spielen. Sie spielen wie Millionen andere Tiere auch und so, wie es Milliarden Menschen tun. Sicher, es mag Unterschiede geben zwischen einer Runde Schach im Café und einer Ball spielenden Schildkröte im Zoo. Doch in beiden Fällen gilt: Es dient nicht unmittelbar dem Überleben, die Beteiligten müssen kreativ Strategien entwickeln – und es gibt ein Belohnungssystem, das mächtig ist.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Schimpansen setzen ihr »Spielgesicht« auf, und Biber wälzen sich wild über den Boden)
Schon bei kleinsten spielerischen Erfolgen schüttet das limbische System Endorphine aus. Die machen so schnell süchtig, dass sie auch den vermeintlich so vernunftbegabten Homo sapiens auf Bolzplätze und an Spieltische treiben. Kein Wunder, dass Lernen oder Training, wenn es spielerisch gestaltet ist, von Menschen jeden Alters bevorzugt wird.
Der Salzburger Spielforscher Rainer Buland fordert aus diesem Grund spielerisches Lernen an Schulen, und er steht damit nicht allein. »Wenn wir sehen, mit welcher Mühe Jugendliche für eine Prüfung einen Stoff büffeln, der sie nicht interessiert und den sie schon am Tag nach der Prüfung vollständig vergessen haben, dann stellt sich die Frage: Wie lange werden wir uns als Gesellschaft diesen Luxus ineffizienten Lernens noch leisten können?«, sagt er. »Das Spiel ist das effizienteste Lernmedium.« Lernforscher bestätigen, dass der Mensch nicht jene Inhalte am besten behält, die er gehört oder gelesen hat, sondern das, was er selbst getan hat.
Lange Zeit vermuteten Wissenschaftler, dass höher entwickelte Lebewesen einfach deshalb spielen, damit sie die in der Wildnis notwendigen Fähigkeiten wie Jagen oder Fliehen lernen.
Hunde und Wölfe, die sich in Scheinkämpfen tollen, dienen als Beispiel dafür ebenso wie Kinder beim Versteckspielen. Das Problem dabei: Zumindest Tiere kommen im späteren Leben oft gut klar, wenn sie in jungen Jahren nur wenig Gelegenheit zum Spielen hatten.
Laborkatzen etwa, die in Experimenten mit und ohne Spielzeug aufwachsen, sind im späteren Leben gleich gut beim Jagen. Hinzu kommt, dass die Handlungsabläufe beim Spielen oft andere sind als jene, die später im Leben gebraucht werden. Wenn Hunde spielen, wechseln sie dominantes und unterwürfiges Verhalten ständig. Sie strecken beispielsweise die Vorderbeine aus, senken den Kopf und wedeln mit dem Schwanz, um zu signalisieren: »Komm, mach weiter, ist nur Spaß.«
Schimpansen setzen ihr »Spielgesicht« auf, und Biber wälzen sich wild über den Boden.
Das alles sind keine Verhaltensmuster, die im Ernstfall gebraucht werden. Von einer »beschränkten unmittelbaren Funktion« spricht der Tierforscher Gordon Burghardt aus Tennessee in diesen Fällen. Er vermutet, dass der Nutzen solcher Spiele in der Zukunft zu suchen ist.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Es könnte auch sein, dass ein Nutzen des Spielens darin liegt, die Welt aus anderen Perspektiven zu erleben)
Tatsächlich sind manche Tiere, die in der Jugend viel gespielt haben, später sozial kompetenter. Das haben Experimente von Sergio Pellis an der University of Lethbridge in Kanada gezeigt. Er ließ Ratten mit und ohne Spielgefährten aufwachsen. Als er später die Gehirne der Nager sezierte, wurde die Folge dieses Unterschieds sichtbar: Der mittlere präfrontale Kortex war bei den allein groß gewordenen klar unterentwickelt – eine Hirnregion, die unter anderem das Sozialverhalten steuert.
Aus anderen Versuchen ist bekannt, dass Ratten, die in der Jugend nur wenig spielten, mehr Stresshormone ausschütten, wenn sie später im Leben auf unbekannte Artgenossen treffen. Pellis hat sich auch damit beschäftigt, wie Versuchstiere mit einem beschädigten präfrontalen Kortex reagieren. Erst kürzlich hat er entdeckt, dass Ratten mit einem solchen Handicap enorme Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Ratten bekommen.
Doch Biologen betonen, es sei schwierig, vom Nager auf den Menschen zu schließen. Es könnte auch sein, dass ein Nutzen des Spielens darin liegt, die Welt aus anderen Perspektiven zu erleben. So wie Kinder andere Rollen einnehmen (»Ich täte halt jetzt die Mutter sein, und du wärst das Baby«), Kaufläden eröffnen oder sich als Prinzessinnen verkleiden, hilft es vielleicht auch Tieren, in andere Rollen zu schlüpfen.
Viele Arten vollführen die ungewöhnlichsten Bewegungen, wenn sie spielen oder andere dazu auffordern wollen. Einer weiteren, überaus steilen These zufolge hilft das Spielen sogar, die eigenen Existenzängste zu zähmen. Womöglich überleben Individuen den Evolutionskampf besser, wenn sie gelernt haben, kreativ über die Zukunft nachzudenken und optimistisch stets eine Reihe von Möglichkeiten im Blick zu haben. Eine These, die auch mit den Mechanismen der Evolution in Einklang zu bringen wäre.
Der große Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould nannte Flexibilität den »Schlüssel für Erfolg im Überlebenskampf der Arten«. Der Münchner Psychologe Rolf Oerter sieht das ähnlich: »Das Spielen erschließt Kindern eine Fülle von Denkmöglichkeiten«, erklärt er. »Das wiederum erlaubt ihnen, als Erwachsene kreativ Handlungsoptionen zu erschließen.« Die Wege dahin können zwischen den Geschlechtern unterschiedlich sein, nicht nur bei Tieren, auch beim Menschen.
Aller Emanzipation zum Trotz zeigt sich, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich spielen, auch wenn man ihnen das gleiche Spielzeug vorsetzt. Das muss nicht immer so plakativ ablaufen wie bei dem Jungen, der ein Stofftier mit lautem Motorenbrummen über den Boden schiebt, oder der Tochter, die ein vom Vater gebasteltes Pappschwert liebevoll mit bunten Sternchen beklebt, statt in den Kampf zu ziehen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Spielen hilft Kindern, das Leben zu meistern)
Das Üben bestimmter Fähigkeiten ist nur die eine Seite, betont der Psychologe Oerter. Noch wichtiger sei für Kinder der Effekt der Lebensbewältigung. »Kinder haben in vielen Fällen noch nicht die Kompetenz, Probleme selbst in die Hand zu nehmen«, sagt er, »und oft werden sie von den Erwachsenen daran gehindert.« Nicht selten werde auch Traumatisches oder Unverstandenes aufgearbeitet.
Oerter berichtet von einem Jungen, der immer wieder einen Camping-Urlaub nachspielte, in dessen Verlauf ein Räuber auftritt, der am Ende von der Polizei geschnappt wird. Den glücklichen Ausgang bejubelte der Kleine mit einem Freudentanz. Später berichtete die Mutter, dass der Urlaub genau so abgelaufen sei, allerdings sei der Räuber nie gefasst worden.
Spielen hilft Kindern, das Leben zu meistern – und auch Erwachsenen, beim Skat, Kegeln, Fußball oder Lotto. Allein vier Millionen Deutsche sollen zurzeit vom weltweit grassierenden Pokerfieber befallen sein. Psychologen erkennen zwei Ursachen dafür: Zum einen verdient man sich im Spiel immer wieder kleine Erfolge, die das echte Leben zu spärlich vergibt. Zudem bietet das Spielen Erwachsenen die Möglichkeit, immer mal wieder in die Kindheit zurückzufallen.
Dieses »Regredieren«, wie Psychologen es nennen, ist eine wichtige Methode der Entspannung. Weil es sozial nicht akzeptabel ist, dass Erwachsene sich zwischendurch wie Kinder aufführen, wenden sie sich ritualisierten Spielen zu. Oder eben einem Hobby.
Doch gibt es überhaupt eine harte Grenze zwischen Spiel und Realität? Anders gefragt: Was im Leben ist eigentlich kein Spiel? Bei Präsentationen in der Arbeitswelt wird oft genug »geblufft«. Bei der Partnersuche setzen viele Menschen »alles auf eine Karte«, statt einer nahe liegenden Option nachzugeben.
Im sozialen Geflecht eines Betriebs oder einer Familie wird nicht selten »über Bande gespielt«. Und nennt man das, was Gewerkschaften und Arbeitgeber jährlich aufführen, nicht gemeinhin »Tarifpoker«? Von den jüngsten Zockereien in der Finanzwelt ganz zu schweigen, wo es ja offenbar den Investment-Bankern zuletzt nur noch darum ging, mit virtuellenGeldströmen das eigene limbische System im Kopf zu befriedigen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Übergang vom Spaß zum Ernst ist oft verwaschen)
Die freie Marktwirtschaft ist von ähnlichen Prinzipien angetrieben wie ein spielerischer Wettkampf, sagt der Kulturanthropologe Christoph Wulf. Und manche Soziologen verstehen sportliche Wettkämpfe als ritualisierte Kriege. Wulf hat festgestellt, dass gerade in ritualisierten Abläufen, wie sie oft auch beim Spielen gelten, der Spaß schnell kippen kann.
Das zeige sich bei Fußball-Hooligans und auch bei Skatbrüdern, wenn sich herausstellt, dass einer der Spieler nicht Farbe bekannt hat. Der Psychologe Oerter nennt als weiteres Beispiel den Flirt: »Wenn einer das als Spiel versteht und der andere es ernst meint, dann prallen die Dinge schnell übel aufeinander.«
Sogar überaus ernste Dinge wie eine Gerichtsverhandlung zeigen Elemente eines Spiels: Da gelten feste Regeln, einige der Beteiligten verkleiden sich, und es gilt, strategisch vorzugehen, um etwas zu gewinnen (und sei es nur, der Höchststrafe zu entgehen). Zweifellos reichen die Konsequenzen dieses Rituals weit in die Realität hinein. Doch ist die Kulturgeschichte der Menschheit voller Beispiele, in denen eindeutig spielerische Handlungen existenzielle Konsequenzen für die Beteiligten hatte.
Bei den Mayas gab es Ballspiele, an deren Ende die unterlegene Mannschaft niedergemetzelt wurde. Der Übergang vom Spaß zum Ernst ist oft verwaschen.
Psychologen sind sich jedenfalls sicher, dass Erwachsene den Ernst des Lebens besser meistern, wenn sie ihn spielerisch angehen. Insofern haben Wissenschaftler und Künstler große Chancen auf ein erfülltes Berufsleben. Sie dürfen, ja müssen sogar kindliche Fähigkeiten wie Neugier und Kreativität einsetzen, um Erfolg zu haben.
Eine eher zwiespältige Verquickung von Spiel und Beruf durchleben dagegen Profisportler: Fußballer sind umso erfolgreicher, je besser sie spielen, und doch ist das Spielen für sie ein Beruf, den sie ernst nehmen müssen wie ein Buchhalter seine Kontoauszüge.
Spielforscher tun sich schwer mit einer klaren Definition von Spiel. In der psychologischen Fachliteratur sind Definitionen zu finden wie: »Im Spiel müssen gleiche Rechte und Gewinn- oder Beteiligungs-chancen für alle Mitglieder bestehen.« Aber gilt das auch für Kinder, die Diener und Königin spielen? Oder die Definition: »Spielen macht Spaß!«
Was, bitte schön, ist Spaß? Interessant sei jedenfalls, sagt Rolf Oerter, dass Kinder oft besser den Unterschied zwischen Spiel und Ernst erkennen als jeder Erwachsene. Kann das Spielen am Ende doch nur ein verhaltensbiologischer Firlefanz sein, den sich hoch entwickelte Lebensformen einfach so leisten? Können jene Skeptiker recht haben, die absolut keinen Sinn im Spiel erkennen wollen (und von denen viel zu viele die Lehrpläne der Schulen verwalten)? Wohl kaum. Um das zu erkennen, muss man keine Ratten zerschneiden. Man braucht nur in die Gesichter spielender Kinder zu blicken. In das der eigenen Tochter zum Beispiel, wenn sie mit gekonnten Handschlägen Panini-Bildchen aufwirbelt. Dass am Ende ihr Trick auffliegt (sie schleckt sich zwischendurch die Hande ab), schmälert das Glücksgefühl kein bisschen. Tricks gehören nun einmal zu jedem guten Spiel, seit die Evolution diese geheimnisvolle Tätigkeit erfunden hat.
Fotos: Leo Ostwald; Patrick Hamilton; dpa
Vielen Dank an: Eva Ostwald; Kinderhaus Osterwaldstraße; Bazi Bar München.