Der Winter hat zwei unangenehme Begleiterscheinungen: die Glätte und das, was wir dagegen tun. Bei Winterstreu gibt es nur zwei Zustände: Entweder, es wurde »nicht gestreut«, weil der Nachbar oder die Gemeinde versagt haben, oder das Zeug »ist überall«. Die Abwesenheit von Winterstreu oder seine mangelnde Funktionalität kann unangenehme Folgen haben, zum Beispiel Stürze und Häufungen von ARD-Brennpunkten, in denen es um Straßen- und Gehwegglätte geht. Die Anwesenheit hingegen ist dann auch wieder nicht recht, denn: »Das Zeug kommt ja überall rein.«
In der Tat hat Winterstreu die fast metaphysische Eigenschaft, ihren Weg von der Außenwelt in die Innenwelt zu finden, ohne, dass man diesen Weg mit klarem Kopf nachvollziehen könnte. Es haben doch alle die Straßenschuhe an der Wohnungstür abgetreten/abgeklopft/abgebürstet/ausgezogen/verbrannt! Von den Abstreifvorrichtungen an der Wohn-Peripherie ganz zu schweigen, all den Fußabtretern, Sisalmatten und besonders den rührend in der Mitte gefalteten grauen Putzlappen, die genau so lange wirksam aussehen, bis jemand sie zum ersten Mal mit dem winterstreubelasteten Stiefel berührt.
Winterstreu löst die Grenzen zwischen drinnen und draußen auf. Draußen unterdrückt es durch die Klimazone, Jahreszeit und Witterung verursachte Effekte, damit wir uns auf dem Gehweg so sicher bewegen können wie drinnen, und drinnen erinnert es daran, dass gerade Winter ist und dass es unmöglich ist, die Jahreszeit vor der Tür zu lassen. »Schotter auf Parkett«, beschreibt ein Freund seine ultimative Phobie, für die er keinen Fachbegriff gefunden hat, und die ihn antreibt, von Jahr zu Jahr teurere Staubsauger anzuschaffen. Es hilft nicht viel, denn auch die mit simulierten Mini-Wirbelstürmen in hermetischen Hightech-Kammern sind halt Staubsauger und keine Streustoffsauger. Ein anderer Freund berichtet, er fände zur Winterzeit mineralische Streugranulate gar regelmäßig »in der Fresse«, etwa abends beim Zähneputzen. Ihm ein Beweis, dass einem im Laufe der Jahreszeit das Zeug bis in den Körper dringt, als würden wir am Ende selbst zu Winterstreu. Vermutlich ist einfach vor ihm auf dem Fahrradweg jemand ohne Schutzblech gefahren und hat ihm die Steinchen entgegengeschleudert; aber der existenzielle Schrecken sitzt tief und ist durch keine rationale Erklärung heilbar.
Auftauende Streumittel sind in vielen Gemeinden verboten, denn Streusalz schmilzt zwar den Schnee, aber auch die Umwelt: Das Grundwasser verdirbt, Bäume leiden. Es ist aber sehr effektiv, darum lässt mancher sich nicht daran hindern, den Gehweg vor seinem Haus doch damit zu behandeln: Salzstreuer sind die Guerilla des Winterdienstes. Vorgeschrieben ist aber eben meist Streusand oder Splitt, zerkleinertes Gestein mit Korngröße so um die zwei Millimeter. Gemeindeverordnungen sprechen von »abstumpfenden Streumitteln«. Dies bezeichnet die Wirkung auf das, was bis zum Ausbringen von Streusand oder Granulat noch rutschig war, ob vereister Gehweg oder frisch lasierter Dielenboden. Allerdings mag man unter »abstumpfenden Streumitteln« auch verstehen, dass man im Laufe des Winters den Kampf irgendwann aufgibt.
Eine Alternative wäre Maiskolbenschrot. Das ist das Beste, was es gibt. Streustoff-Nerds kriegen glänzende Augen, wenn sie davon reden, sie nennen es zärtlich Maisspindelgranulat: Es wird hergestellt aus entkörnten Maiskolben, es klebt nicht, schmutzt nicht, stumpft trotzdem ab und ist mikrobiologisch abbaubar. Allerdings ist Maiskolbenschrot schwer zu kriegen, man muss es in der Zoohandlung kaufen und quasi zweckentfremden. Vielleicht nimmt Manufactum es irgendwann auf ins Programm, als Edelstreu des nostalgischen Bürgertums, und dann wird Maisspindelgranulat ein Statussymbol, bis es in ein paar Jahren auf den Sonderverkaufsflächen der Discounter auftaucht, und dann streuen es alle und es ist Schluss mit dem Dauerknirsch.
(Foto: Sophia Lorenz)