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- 24. April 2014
- Leben und Gesellschaft
Vermisst, verraten, vergessen

Rehana Khatun sitzt in einem Rollstuhl, der zwei Fußstützen hat. Nur: Sie hat keinen Fuß mehr, den sie draufstellen könnte. Am 24. April vor einem Jahr saß sie nicht weit von hier an einer Nähmaschine im Rana Plaza. Dort, wo eine Menge Billigketten ihre Kleider produzieren lassen. Am Tag davor wurden alle nach Hause geschickt. 3572 Arbeiter. Im zweiten Stock ziehen sich Risse wie Fäden über Wände und Pfeiler, raunten die Leute.

Doch dann sagten zwei Männer von der Distriktverwaltung, das Gebäude würde mindestens 100 Jahre halten. Die Arbeit ging weiter. Um 8.30 Uhr fiel der Strom aus, die tonnenschweren Dieselgeneratoren sprangen an, ein Ruck ging durch das Gebäude, in den Lärm der Generatoren mischte sich ein viel brutaleres Geräusch: Es war, als würde der Boden zerfließen.

1134 Menschen starben in dem zusammenstürzenden Gebäude, das gegen jede Vernunft in einem Sumpf erbaut wurde, mit zu dünnen Zwischendecken, aus Beton, der mit zu viel Sand versetzt war. Heute kommt Helena Begum jeden Tag hierher, um ihren Sohn zu beweinen. Er war Bügler, er sorgte dafür, dass die billigen Kleider ordentlich in den Ländern des Westens ankamen.

Beckenknochen wie diese finden die Kinder auf dem Schutthaufen des Rana Plaza täglich. »Die Toten liegen hier überall«, sagt ein Junge. In der Hand hält er eine Schädeldecke. Die Kinder mögen die Knochen nicht. Sie locken die Fremden an. Und wegen der Fremden interessiert sich die Polizei für diesen Ort. Und die Polizisten machen Schwierigkeiten. Sharif Akhteruzzaman nimmt alle Knochen, die DNA kann er auch aus kleinen Stücken herausziehen. Er ist der Mann, der den Unterschied macht. Angehörige, die weder einen Toten noch eine Übereinstimmung mit Sharif Akhteruzzamans DNA-Datenbank vorweisen können, bekommen keine Entschädigungszahlung. Keine Knochen, keine DNA, kein Totenschein, kein Geld, nichts.

Vor den Resten des Rana Plaza stehen die, die Pech hatten. »No DNA«, schreien sie in die Mikrofone der wenigen Journalisten, die noch Interesse an dem Thema haben. Eine Gewerkschaft hat zur Demo aufgerufen, zweihundert Menschen sind da. Ein Gewerkschafter schreit ins Mikrofon: »Viele von euch haben nichts bekommen. Aber wir werden sie zwingen, zu bezahlen.« Familien ohne Leiche haben oft nur bekommen, was der Textildiscounter Primark als Soforthilfe bezahlt hat, für jeden ein paar Hundert Euro. Sie hören aber Summen, so hoch, dass sie staunen, denn sie bekamen so wenig, dass sie nicht wissen, wie sie überleben sollen. Die Ungerechtigkeit macht sie verrückt.

Pakhi Begum, sagen andere Opfer, hat keine Sorgen mehr, sie hat vergleichsweise viel Entschädigung bekommen. Doch ihre Familie streitet um das Geld. Bei mancher schwer verletzten Näherinnen hat der Mann die Kompensation genommen und eine andere Frau geheiratet oder ist einfach verschwunden. Die Frauen fragen: »Was sollen wir mit unserer Wut machen?«

Seit Monaten versuchen Gewerkschaften und Organisationen wie die »Kampagne für Saubere Kleidung«, das Geld für den Entschädigungsfonds zusammenzubekommen. Als man sich fünf Monate nach der Katastrophe in Genf das erste Mal zusammensetzte, kamen neun der 29 internationalen Textilunternehmen, für die im Rana Plaza produziert wurde. Nach zwei Tagen beschloss man, nichts zu beschließen.

160 Millionen Menschen leben in Bangladesch. Wenn ein Mädchen vom Land einen Job in einer Textilfabrik bekommt, ist sie glücklich. Trotz der Risiken und schlechten Bezahlung. Shahidullah Azim ist einer der Vizepräsidenten der Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association, er sagt: »Die Käufer fordern nur. Sie wollen perfekte Fabriken, höhere Löhne und drücken die Preise. Viele zahlen jetzt weniger als vor Rana Plaza. Die Käufer müssten nur zehn, zwanzig Cent mehr für jedes Teil zahlen, für die Kosten der neuen Sicherheitsauflagen. Wir kämpfen doch alle für die Menschenrechte, richtig?«Dass es bis vor Kurzem ein Kündigungsgrund war, einer Gewerkschaft beizutreten, dass Näherinnen geschlagen, Überstunden nicht bezahlt und Kinder ausgebeutet wurden – davon kein Wort. Bangladesch ist billig, das war und ist der Trumpf dieses Landes.







