Am 11. März 2011 saß Munemasa Takahashi in seiner Wohnung und dachte: Ich verschwende mein Leben mit unwichtigen Dingen. Im Fernsehen liefen Bilder unfassbarer Zerstörung, dazwischen Retter, die bis zur Erschöpfung Menschen aus Trümmern befreiten und mit schwerem Gerät Schutt beiseite räumten. Und im heil gebliebenen Tokio, 300 Kilometer vom Katastrophengebiet entfernt, stellte Takahashi fest, dass er als ausgebildeter Fotograf nichts für die Opfer der Flutwelle tun konnte. »Fotografie erschien mir machtlos, wenn Menschen nichts zu essen, kein Wasser und keinen Strom mehr haben«, sagt Takahashi heute.
Doch als er sah, dass beim Aufräumen auch massenweise Fotoalben in den Trümmern gefunden wurden, stellte er sich eine Frage, die seine Arbeit der folgenden Jahre prägen sollte: Was passiert mit diesen Bildern? Er wusste, dass sich die Fotos bei Nässe schnell auflösen würden. Und mit ihnen würden die Erinnerungen der Menschen schwinden, denen die Bilder gehörten. Sofern diese Menschen noch am Leben waren.
Im Internet fand Takahashi die Organisation »Memory Salvage«, die sich um die Sicherung der Fotos kümmerte. Eine Aufgabe für Profis. Um sie vor Schimmel und Zerfall zu schützen, mussten alle Bilder einzeln abgewaschen, mit einem weichen Pinsel gesäubert und getrocknet werden. Takahashi kannte sich aus mit diesen Dingen, schnell wurde er einer der Leiter des Projekts und arbeitete mit Hunderten freiwilligen Helfern daran, die Fotos wiederherzustellen und zurück-zugeben. Takahashi hat Tausende Bilder abfotografiert und im Internet nach ihrem Fundort katalogisiert, sodass Menschen online nach ihren vermissten Fotos suchen konnten. Mehr als 300 000 Bilder fanden so zurück zu ihren Besitzern. »Viele dieser Menschen hatten alles verloren, die Fotoalben waren die letzte Erinnerung an ihr altes Leben«, sagt Takahashi. Die meisten hätten bei der Übergabe der Bilder geweint.
Doch es gab viele Fotos, die niemand zurückforderte. Die Bilder wurden in großen Plastikkisten mit der Aufschrift »Hoffnungslos« gesammelt. Sie sollten irgendwann weggeworfen werden.
Takahashi fand: Die Bilder dürfen nicht verschwinden. Er hat mit den herrenlosen Fotos eine Ausstellung organisiert, die um die Welt reist, in Italien waren die Bilder zu sehen, in New York, in Australien. Er hat eine Auswahl in einem Buch zusammengefasst, darin sind lauter alltägliche Momente zu sehen: Bilder vom Skiurlaub, von Familienfeiern, von Kindern, die im Garten planschen. Doch schon rasch strahlen die Fotos etwas Beklemmendes aus: Sie zeigen ja Augenblicke einer heilen Welt, die für immer zerstört wurde.
Gegenstände, die bei Katastrophen übrig bleiben, werden von Kulturwissenschaftlern als »Artefakte des kulturellen Gedächtnisses« bezeichnet. Ob zerstörte Fotos aus Fukushima, verbogene Stahlträger des World Trade Centers oder eine beim Atomangriff auf Hiroshima stehen gebliebene Uhr – solche Objekte eignen sich gut, das Ausmaß einer Zerstörung auch für Leute begreiflich zu machen, die eine Katastrophe nur aus dem Fernsehen kennen.
Die Bilder aus Fukushima haben aber noch eine andere Funktion. Denn auch durch die Ausstellung von Munemasa Takahashi bekommen nun immer wieder Menschen ihre verlorenen Bilder zurück. Im Januar hat eine alte Frau ein Foto erkannt, das aus ihrem zerstörten Haus stammte. Bei der Recherche kam dann heraus: Aus ihrem Album waren fünfzig Bilder gefunden worden – sie alle wurden ihr in einer Zeremonie überreicht. Die Plastikkisten mit der Aufschrift »Hoffnungslos« leeren sich.
(Fotos: Lost and Found Project)
Fotos: Munemasa Takahashi