»Unsere Bücher sind wie sorg­fältig genähte Nacktkostüme«

In ihren jüngsten Büchern erzählen die Schriftstellerinnen Helene Bracht und Katja Oskamp schonungslos ehrlich die eigenen Geschichten. Im Interview sprechen sie über asymmetrische Liebe, Missbrauchserfahrungen, angstfreien Sex und die Frage, ob es befreiend ist, als Frau im Alter unsichtbar zu werden.

Katja Oskamp, 55, und Helene Bracht, 70, im Hof des Ullstein-Verlags.

Helene Bracht möchte in die Sonne, Katja Oskamp in den Schatten. Wir treffen sie im baumbestandenen Garten des Ullstein-Verlags in Berlin und stellen den Biertisch so auf, dass es für alle passt. Die Schriftstellerinnen kommen schnell ins Gespräch und finden als erste Gemeinsamkeit heraus, dass sie morgens noch im Nachthemd ihre Pflanzen auf dem Balkon gießen. Es ist das erste Mal, dass sich die beiden persönlich treffen, bis jetzt kennen sie sich nur vom Lesen des Buches der jeweils anderen. Bracht hat das Buch Das Lieben danach geschrieben. Darin verarbeitet sie, dass sie als Kind vom Untermieter ihrer Eltern, der auch ihr Nachhilfelehrer war, solange missbraucht wurde, bis die Mutter es herausfand. Durch die Veröffentlichung erfuhr auch Brachts heutiges Umfeld erstmals davon, was sie als kleines Mädchen auf Ausflügen oder in der Küche der Eltern erlebt hatte. Oskamps jüngstes Buch heißt Die vorletzte Frau, sie erzählt darin die Geschichte ihrer liebevollen, aber nicht immer symmetrisch ablaufenden Beziehung zu ihrem viel älteren ehemaligen Professor, die fast 20 Jahre währte. Die Beziehung ging auseinander, nicht nur, aber auch weil Oskamps Partner Prostata­krebs bekam. Sie pflegte ihn noch einige Jahre lang und reflektiert im Buch darüber, wie sich die Beziehung aufgrund der Krankheit, aber auch mit dem eigenen Älterwerden veränderte. Beide, Oskamp und Bracht, erzählen so offen von Liebe und Mangel und Sexualität, wie man es von Frauen nicht gewohnt ist. Als wollten sie, ganz im Sinne Gisèle Pelicots, auch sagen: Die Scham muss die Seite wechseln.

SZ-Magazin Frau Bracht und Frau Oskamp, wir haben Sie zusammengebracht, weil wir den Eindruck hatten, dass Sie beide in Ihren Büchern wirklich ehrlich sind. Was haben Sie gedacht, als wir wegen des Interviews angefragt haben?
Helene Bracht: Mein Gedanke war: Ja, die hat genauso viel riskiert wie ich.
Katja Oskamp: Wir riskieren beide was, das glaube ich auch. Wenn wir uns einer Aufgabe stellen, die wir literarisch bearbeiten, machen wir Ernst. Wir blenden nicht zu früh aus, hören nicht auf, wenn es unangenehm wird, sondern versuchen, das Forschungsvorhaben so präzise wie möglich durchzuführen, auch wenn der Ausgang ungewiss ist.
Bracht: Das finde ich total witzig, dass Sie Forschungsvorhaben sagen. Tatsächlich ist es das für mich auch gewesen.

Wie lautet das Forschungsvorhaben für jede von Ihnen?
Bracht: Ich habe untersucht, welche Spuren diese frühe Missbrauchserfahrung mög­licherweise in Sachen Intimität, Vertrauen und Liebesbindungen hinterlassen hat. In meinem Liebesleben halt.
Oskamp: Und ich, ob alles so gekommen wäre, wie es gekommen ist, wenn er nicht krank und ich nicht alt geworden wäre.
Bracht: Womit ich mich sehr verbunden fühlte, war die Radikalität. Nichts auszulassen. Tatsächlich habe ich mir beim Schreiben zwischendrin die Haare gerauft und gedacht, wo schreibe ich mich eigentlich rein? Was passiert hier?
Oskamp: Aber da kann man immer auf seinen Forschungsauftrag zurückgreifen. Was ist die große Frage? Was will ich rausfinden? So ein Buch ist ja keine allgemeine, großflächige Selbstentblößung.
Bracht: Ich wollte mich dem stellen, was ich seit vielen Jahren immer mal wieder in einzelnen versprengten Erkenntnissen ver­mutete: dass es früh in meinem Leben eine Grundlage für wiedererkennbare Muster gab. Die sind tatsächlich so verborgen, dass ich mich und andere darüber täuschen konnte.

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»Ich schreibe dem Leben hinterher«

Katja Oskamp

Katja Oskamp schrieb mehrmals autobiografisch, etwa über ihre Arbeit als Fußpflegerin in Marzahn, mon amour. Sie studierte Theaterwissenschaften, arbeitete als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte dann am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Kurz vor dem Tod Ihrer Mutter sprachen Sie mit ihr über den Missbrauch. Wurde Ihnen da etwas bewusst, das Ihnen vorher nicht bewusst gewesen war?
Bracht: Das kann ich nicht richtig beantworten. Die Erinnerung war immer da, ich habe das nicht vergessen, aber ich fand es viele Jahre nicht der Rede wert. Shit happens, sozusagen. Eigentlich kam erst im Alter die E­rkenntnis, dass ich vieles nicht zugelassen habe. Da wachst du dann aber nicht morgens auf und hast die Erleuchtung. Die kommt – ich denke, nicht nur bei mir – sehr spät. Mich beschäftigte der Gedanke, dass mir durch den Missbrauch im Leben etwas vorenthalten geblieben sein könnte.

Hilft es, wenn das, über das man schreibenmöchte, weiter zurückliegt?
Oskamp: Es darf noch nicht zu weit zurückliegen, aber ich darf auch nicht mehr mittendrin stecken. Ich schreibe dem Leben hinterher, und den richtigen Moment zu erwischen, ist nicht ganz einfach.

Ist es schmerzhaft, zurückzuschauen?
Bracht: Das Zurückschauen schon. Aber nicht so, dass ich nicht gern geschrieben hätte. Das Schmerzhafte ist der Fundus, aus dem man schöpft. Ich habe den Umstand, dass es mir gelang, zu schreiben und auch im Schreiben durchaus Schmerz zu spüren, paradoxerweise sehr genießen können.
Oskamp: Ich kenne das. Man möchte dem Schmerz ausweichen. Aber es führt kein Weg dran vorbei, die Frage ist nur, wie lange man es vor sich herschiebt. Das Schreiben ist eine Art Muskelspiel. Ich bin stolz, wenn ich so was geschafft habe.
Bracht: Es ist eine Bewältigungslust dabei. Es ist ein lustvoller Prozess, eine Sprache dafür zu finden, etwas einzufangen, die Dämonen darin zu bannen.
Oskamp: Manchmal ist es eine süße Qual. Manchmal ist es eine schmerzhafte Qual. Manchmal ist es eine Angeberlust.

Wenn Sie etwas geschrieben haben, ist das ein Gefühl von: Es ist abge­schlossen?
Oskamp: Es gibt da zumindest so ein Gefühl von »Ich habe etwas gebannt«. Klar, ich offenbare mich, aber irgendwie ist es auch so, dass der Text mich schützt.
Bracht: Es ist eine dialektische Angelegenheit. Es macht einen verletzlicher, und gleichzeitig schützt es, weil es eine Form bekommen hat, eine Gestalt, die auf Entscheidungen beruht. Dieser Prozess ist auch eine Selbstermächtigung.
Oskamp: Ich bin eher Chef der eigenen Geschichte, als ich es vorm Schreiben war. Durch das, was ich geschrieben oder eben nicht geschrieben habe. Am Theater gibt es diese Nacktkostüme, Körperkostüme, die aussehen wie nackt. Wenn die Schauspieler so eins anhaben, sind die dann nackt oder nicht? So ist es mit einem Buch auch. Es heißt immer, man verarbeitet mit dem Schreiben, und dass es eine selbsttherapeutische Wirkung hat. Das stimmt auch. Aber man hat ja erst fertig geschrieben, wenn man fertig verarbeitet hat. Unsere Bücher sind wie sorgfältig genähte Nacktkostüme.

Wie sehr schont man sich und andere trotzdem?
Bracht: Es macht überhaupt keinen Sinn, anders als schonungslos zu schreiben.
Oskamp: Wie und wieso soll ich einen Text schreiben, der alle schont, die darin vor­kommen?
Bracht: Aber es ergab sich beim Schreiben auch viel Mitgefühl. Andere waren zum Beispiel viel empörter darüber, wie meine Eltern reagiert haben. Ich bin es gar nicht.

»Es ist eine Bewältigungslust dabei«

Helene Bracht

Helene Bracht studierte Pädagogik und Psychologie, arbeitete als Theaterregisseurin und Schauspielerin und betreibt jetzt eine eigene Praxis als Psychologin in Berlin. Ihr Buch Das Lieben danach ist Brachts erste literarische Veröffentlichung.

Wir reden von dem Moment, in dem Ihre Mutter sagt, sie habe sich für Sie geschämt, weil Sie die Geschändete waren.
Bracht: Ich sehe meine Eltern in ihrer Zeit und in ihren Bemühungen. In ihren Zwängen, in ihren Begrenzungen, in dem Elend in ihrem Zweigespann, in ihrer Unfähigkeit, mit diesem Kind, das ich war, so umzugehen, dass es bekam, was es brauchte. Ich habe keinen Zorn, ich habe Verständnis dafür, wie ratlos sie waren, als der Missbrauch ans Tageslicht kam. Da waren nur Ratlosigkeit und Scham.
Oskamp: Hätten Sie das so wie jetzt mit 30 oder 40 auch gesagt?
Bracht: Never ever. Ich habe ja nie darüber gesprochen.
Oskamp: Oder empfunden? Also das Verständnis?
Bracht: Das Verständnis hatte ich schon relativ früh. Meine Eltern waren alt, als ich zur Welt kam. Sie hätten meine Großeltern sein können.
Oskamp: Ich musste an meine Oma Hildegard denken. Als ich sieben oder acht war, war ich in den Ferien bei ihr und habe immer bei ihr im Ehebett übernachtet. Sie war noch im Wohnzimmer, ich musste noch mal aufs Klo und bin raus, die Oma hat sich gerade aus­gezogen, ihren BH abgelegt, und ist so erschrocken, dass ich da noch mal langkomme, da hat sie mir voll eine gepfeffert.
Bracht: Weil sie nackt war.
Oskamp: Genau.
Bracht: Die Mechanik dieser Reaktion ist genau die gleiche wie damals, als der Missbrauch aufgedeckt wurde. Du kriegst eine gescheuert dafür, dass du Schreckliches erlebt hast. Das war so.
Oskamp: Dieses Schweigen. Sie hatten keine Worte, sie hätten keine gehabt, um etwas dazu zu sagen. Das ging nicht.

Sie sagen, es gab schmerzhafte Momente beim Schreiben. Jetzt, wo Sie das Buch der jeweils anderen kennen: Gab es auch beim Lesen schmerzhafte Momente?
Bracht: Die Radikalität und Offenheit, mit der Sie schreiben, ist für mich aufgrund meiner Geschichte delikat. Ich war ziemlich geschleudert von sich widersprechenden Gefühlen. Der vollkommen unverstellte Zugang zur Sexualität löst in mir gleichzeitig Bewunderung, Neid und Abscheu aus. Das ist mir viel zu viel, und gleichzeitig denke ich, mein Gott, das kenne ich gar nicht in dieser Fülle, diese Hingabe, das Unmittel­bare, das Pralle daran. Und mir war auch klar, wie sehr Sie damit ins Risiko gehen. Dass Sie der Klinge die Schärfe nehmen.
Oskamp: Radikal, sagen Sie … Ich verstehe schon, was gemeint ist, aber ich selbst empfinde mich beim Schreiben so nicht. Hinterher wird das manchmal gesagt, und dann denke ich, ja, wahrscheinlich ist es so. Wahrscheinlich fehlt mir da was.

Scham?
Oskamp: Ja, Scham, wahrscheinlich.

Ist man es vielleicht nicht gewohnt, dass eine Frau so offen über ihre Sexualität schreibt?
Oskamp: Wenn mir jemand sagt, wie ich das schreiben kann, ohne dass es zu radikal ist, wäre ich bereit, es anders zu machen. Ich will nicht schockieren, ich will nur genau sein. Und wenn diese Liebesgeschichte von Anfang an eine sehr körperliche ist und der eine Körper sich in eine Krankheit verabschiedet, muss ich über diese Körper erzählen.

Tosch, der Mann, mit dem Sie jahrzehntelang zusammen waren, ist selbst auch Schriftsteller, er hat das Buch gelesen. Für ihn wird es auch sehr privat.
Oskamp: Ich habe es ihm geschickt, aber nicht, damit er sagt, ob er es erlaubt oder nicht. Ich habe es ihm als Fachmann zu lesen gegeben und gute Tipps von ihm bekommen.
Bracht: Aber es sind ja schon auch seine Persönlichkeitsrechte.
Oskamp: Er hat es autorisiert. Er hat selbst Romane über nahe Menschen geschrieben, seine Mutter, seinen Vater, der Politiker in der Schweiz war, er kennt das, ein schreibender Täter zu sein.

Frau Bracht, war Sexualität für Sie immer eine Überwindung?Bracht: Für mich war es nie unkompliziert, bis zum Schluss nicht. Aber es gab auch wahnsinnig wichtige, lustvolle, sinnliche Erfahrungen. Und es gab auch Liebe. Es ist nicht immer nur eins. Ich würde trotzdem sagen, dass das, was mir geschehen ist, als ich ein kleines Mädchen war, immer noch in mir lebt, obwohl ich 70 bin. Und ich denke, das ist nicht nur bei mir so, sondern bei anderen auch. In dem Moment, in dem ich meine innere Handbremse löste, habe ich oft Angst gekriegt und mich entzogen. Und ich habe damit auch Menschen aus meinen früheren Beziehungen Leid zugefügt, wie ich heute weiß.
Oskamp: Ich kenne Angst, aber einen angstvollen Einstieg ins Liebesleben hatte ich nicht.
Bracht: Deswegen ist Sex für Sie etwas Angstfreies.
Oskamp: Ich weiß nicht, ob das angstfrei ist. Es ist auch nicht unkompliziert. Sex ist ja nicht einzeln zu betrachten. In meinem Buch geht es um eine Liebesgeschichte, um dieses Altersgefälle, auch darum, wer wie viel Geld verdient, und darin ist die Sexualität ein Faktor. Das ist etwas Schönes, aber Angst und deren Überwindung spielen auch eine Rolle, sind vielleicht ganz oft dabei. Unkompliziert fand ich das jetzt nicht.
Bracht: Das habe ich auch nicht so gelesen. Aber es gibt darin eine tiefe Bereitschaft und Fähigkeit, sich ganz und gar einzulassen, und die ist nur möglich in der Angstfreiheit.
Oskamp: Das weiß ich eben nicht.
Bracht: Und diese tiefe Angstfreiheit habe ich im Leben nie gehabt und werde sie auch nicht mehr erringen. Es gibt, bei allem Spannenden, was ich erlebt habe, in der Tiefe etwas, was verstört bleibt. Ich habe eine für mich große Liebe nur beendet, weil ich das Gefühl hatte, ich schaffe es nicht, es ist zu nah, ich kann nicht. Es hätte viel Hingabe gebraucht, was bei mir immer verknüpft ist mit existenzieller Gefahr. Und das alles passiert hinter der äußeren Fassade. Alle dachten, ich hätte ein extrem reiches Liebesleben. Aber dahinter steht auch eine Kläglichkeit, eine Suche, ein Unvermögen. Oskamp: Sie stoßen immer wieder mit der Schnauze an dieselbe Stelle?
Bracht: Ja, dann geht die Tür einen Moment lang auf, und ich bekomme eine Ahnung von dem Land dahinter, aber weiter kann ich nicht gehen. Ich weiß nicht einmal, ob die Menschen in meinem Leben, die mir so nah haben kommen können, das überhaupt mitbekommen haben. Ich weiß nur, dass ich mich manches Mal auf eine brutale Weise getrennt habe.

Helene Bracht, in Nordrhein-Westfalen geboren, erzählt auch aus dem Leben einer Westdeutschen, Katja Oskamp, in Leipzig geboren, erzählt auch aus dem Leben einer Ostdeutschen.

Reicht ein Leben nicht, um so etwas zu bewältigen?
Bracht: Meines reicht nicht. Ich werde das nicht mehr schaffen. Meine Liebesbehinderung werde ich mit ins Grab nehmen. Das ist eine Erkenntnis, die mir den Atem genommen hat. Übrigens auch durch Ihr Buch.
Oskamp: Neulich habe ich mit einer Kollegin gesprochen, wir hatten schon ein bisschen was getrunken, die sagte dann, also mit der Liebe ... Wenn ich es recht bedenke, habe ich die Liebe gar nicht kennengelernt.

Was ist denn Liebe für Sie?
Bracht: Och nö.
Oskamp: Ich hol erst mal einen Aschenbecher.

Frau Oskamp, in der Beziehung mit Tosch bekamen Sie Grenzen gesetzt, die auch schmerzhaft waren.
Oskamp: Sie meinen das große Komm-her-geh-weg? Das ist ein schönes Paradox. Komm her, aber geh weg. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass das eigentlich für einen Körper allein nicht machbar ist. Gleichzeitig zumindest.
Bracht: Aber es hält die Spannung.

Es ist nicht so, dass man Tosch die totale Verantwortungslosigkeit unterstellt, aber eine gleichberechtigte Beziehung ist es nicht.
Oskamp: Das hat mich auch geprägt. Mit etwa 30 lernt man Beziehung, ist am Sammeln und Suchen und kann sich noch ändern. Ich bin inzwischen eine geworden, die nur allein leben kann. Das habe ich mir eingefangen in diesen 20 Jahren.

Sie haben seine Beziehungsvorstellung mitgelernt?
Oskamp: Ich traf Tosch, als ich noch verheiratet war. Ich kam aus einer Ehe, in der das Zusammenwohnen in Stein gemeißelt war. Das war aber gescheitert. Da fiel es mir nicht so schwer, den Fehler nicht zu wiederholen.

Haben Sie dieses Komm-her-geh-weg nie als Mangel empfunden?Oskamp: Doch, klar. Hart. Und in der nächsten Sekunde war ich wieder froh, dass wir uns nicht 24 Stunden am Tag in jeder Lebenslage angucken müssen und jede Socke sehen. Es war ein Fest, wenn wir uns wiedergesehen haben.

Wie hat Ihr Umfeld auf die Beziehungreagiert?
Oskamp: Manche Menschen finden, es geht nur so, wie sie selber leben, und sagen dann, hm, na ja. Mit anderen konnte ich mich dagegen direkt verbrüdern. Es erzählt auch immer viel über die Leute.
Bracht: Ich war schon ganz schön empört über sein Verhalten.
Oskamp: Ich auch. Er hat das aber auf eine Weise ausgeglichen oder aufgefangen, die auch toll war.
Bracht: Und das hält sich auf eine schöne und spannende Art die Waage. Es hat mich auch noch mal gelehrt, dass der eigentliche Thrill in der Liebe nicht darin liegt, dass alles harmonisch ist. So, wie Sie es erzählen, gibt es aber schon Aufreger. Ich dachte, entschuldige mal, kann der Mann nicht mal dieses und jenes übernehmen, und muss sie immer die Einkäufe machen und das Kind? Es ist so irre traditionell.
Oskamp: Absolut! Das ist auch ein Teil meines Forschungsauftrags: Wer war diese Frau, die das alles mitgemacht hat? Was hat sie dafür bekommen? Wodurch blieb die Bereitschaft erhalten, das zu machen? Und bis zu welchem Punkt schafft man es, den Ball in der Luft zu halten, und wann sind die Kräfte dafür verloren?
Bracht: Auf diese Frage wird es wahrscheinlich nie eine Antwort geben, weil seine Krankheit dazwischenkam.

Aber er hat in der Krankheit ja auch Ihre Nachfolgerin gefunden. Oskamp: Auch dazu gehören zwei. Sie wurde ja nicht entführt, gefesselt und gegen ihren Willen zu ihm gebracht. Und klar, die Vaterfigur hat eine große Kraft, in allen meinen Texten und in meinem Leben. Eine Vater­figur kann einer Frau, die sich als Tochter fühlen möchte oder als Schülerin, wie es bei mir auch war, Dinge geben, die ein gleich­altriger, auf Augenhöhe agierender Mann ihr nicht geben kann.

»Ich habe mich manchmal auf brutale Art getrennt«

Helene Bracht

Sie beschreiben im Buch, wie Sie Ihre Nachfolgerin zum ersten Mal sehen. Wie war dieser Moment für Sie?
Oskamp: Sehr zwiespältig. Einerseits war da die Eitelkeit, dieser Gedanke, ja klar, ’ne jüngere, 30 Jahre jünger gleich  …
Bracht: Das ist wahnsinnig klischeehaft. Das hält man kaum aus.
Oskamp: Man kann immer sagen, der Mann ist doof und gemein, und die Frau ist ein Opfer. Aber es stimmt ja nicht. Ich wusste in dem Moment, dass ich zu alt bin für dieses Lehrer-Schüler-Spiel. Das war eine tolle Information für mich, sonst hätte ich mich vielleicht länger getäuscht. Ich meine, ich bin ja etwas anderes geworden über die Jahre in der Beziehung. Das ist auch richtig, denn eine Schülerin mit 70 oder mit 90, und der Lehrer ist dann 120 – also, es hat Grenzen.
Bracht: Natürliche Lebensgrenzen. Diese Asymmetrie der Beziehung, da hatte ich schon ein Unbehagen, während ich las.
Oskamp: Ja, die Beziehung war nicht auf Augenhöhe. Was ich Ihnen noch sagen wollte: Das Missbrauchsthema ist ja in Ihrem Buch nur das Sprungbrett, von dem aus erzählt wird. Und dann wird die ganze lange Lebens- und Liebesgeschichte erzählt. Die Muster, die so früh gelegt wurden und sich wiederholen, haben mich fasziniert. Denn die gibt es in jedem Leben, egal, wie die Startvoraussetzungen sind.

Beziehungen sind geprägt von der Zeit und dem Umfeld, in dem man auf­gewachsen ist. Frau Bracht, Sie schreiben von einer geradezu »geräuschlosen Abtreibung«, die Sie als junge Frau hatten. Das ist auch eine Geschichte der Zeit damals, oder?
Bracht: Das machte man so. Da hat kein Mensch drüber gezuckt. Ich reiße immer noch die Augen auf und friere richtig, wenn ich auf mich schaue, wie ich damals war. In der Zeit, die bei uns sexuelle Revolution hieß, war unglaublich viel Gefühlskälte im Spiel. Wie wenig Herz in den Begegnungen war!

Wie haben Menschen aus früheren Beziehungen denn auf das Buch reagiert?
Bracht: Wenn man ein Leben lang eine fundamentale, intime Verfasstheit unter Verschluss hält, muss man damit rechnen, dass viele Menschen, die mit einem durch ein Liebesleben gegangen sind, sich betrogen fühlen. Das kann ich auch verstehen.
Oskamp: Sagen die schon wieder: Schäm dich?
Bracht: Indem ich meine tiefen Blessuren nie wirklich gezeigt habe, mich nicht getraut habe, das mit jemandem durchzustehen, habe ich auch betrogen, wenn man so will. In den Beziehungen, die ich hatte.
Oskamp: Wie lautet denn der Vorwurf? Wäre nicht die angemessene Reaktion von jemandem, der mal der Geliebte war, zu sagen: Ach, jetzt waren wir so lange zusammen, da hab ich dich eigentlich gar nicht richtig gekannt? Das ist eher mein Versäumnis?
Bracht: Nee, das scheint schwierig zu sein. Da geht es eher darum, was so ganz bestimmt nicht war und wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, das so darzustellen. Es gibt unglaublich viele Projektionen darauf. Es hat einfach in keiner meiner Beziehungen ein Prozess des Miteinander-Draufschauens und des Miteinander-Verarbeitens stattgefunden. Das ist das, was ich einfach nicht geschafft habe im Leben. Ich bin nicht wütend oder entsetzt, aber eine bestimmte Form von Melancholie oder Traurigkeit kommt auf, wenn ich an die Dinge denke, die ich verpasst habe. Das Buch allerdings konnte ich jetzt erst schreiben, weil ich lange allein bin.

»Wenn man unsichtbar ist, kann man alles machen«

Katja Oskamp

Eine Ihrer Beobachtungen im Buch ist, dass an jedem Strand, an dem Liegen und Sonnenschirme stehen, immer zwei Liegen nebeneinanderstehen, nie eine einzelne.
Bracht: Die Welt ist paarweise gegliedert, so ist es halt. Aber was für mich eine schöne Errungenschaft ist: Mich ficht das alles nicht mehr wirklich an. Ich bin gern allein und gucke mir die ganze Paarwirtschaft an und denke, jo, ihr habt auch eure Sorgen. Ich fühle mich auch nicht nur als die Hälfte von irgendetwas.
Oskamp: Sie schreiben, dass es für Sie mit 60 eine neue innere Freiheit gab, wie kam das? Wieso mit 60? Das habe ich dann bald, ich freue mich schon.
Bracht: Es ist zu einem Teil die Freiheit, die entsteht, wenn die Attraktivität als Frau nicht mehr so vorrangig ist. Ich war immer groß, schlank und nicht ganz bescheuert aussehend. Das geriet für mich auch irgendwie zur Bürde, weil die Projektionen, die du als Frau abkriegst, nichts zu tun haben mit den inneren Ängsten und den Schwierigkeiten und den Versehrungen, die du durch die Welt trägst. Das war etwas, das von mir abfiel, als ich älter wurde.
Oskamp: Wenn man unsichtbar ist, kann man alles machen, sieht ja keiner.

Ist diese Unsichtbarkeit nicht auch ein Verlust?
Bracht: Für mich nicht. Vielleicht ist das meine spezielle Geschichte, ich empfinde es zu 80 Prozent als Gewinn.

Auch Sie, Frau Oskamp, schreiben von einem Zustand der Unsichtbarkeit, der Sie wie über Nacht überfiel.
Oskamp: Mit Mitte 40 war das, ja: Du spielst nicht mehr mit, kennst aber das Stück.

Haben Sie das auch als Befreiung empfunden?
Oskamp: Erst mal nicht. Erst mal als Verlust, als Zurückweisung, aber dann macht man halt Dinge und traut sich viel mehr, wo man mit 30 oder 40 noch denkt, das geht doch nicht, was sollen die Leute sagen? Und merkt auf einmal: Es ist egal.

Bracht: Ich glaube, in meinem Fall ist die Erleichterung durch das im Alter von mir abgefallene Gefühl sexueller Verfügbarkeit immer noch eine Spätfolge meiner Geschichte. Ich bin jetzt wirklich frei. Und das ist ein wundervolles Gefühl.

Sie sind nicht einsam?
Bracht: Nein. Und was man ja auch sagen muss, Liebesbeziehungen sind das eine. Aber es gibt in dieser Welt noch so viel mehr. Liebe findet auch anderswo statt, in anderen Herzensbeziehungen. Man wird milder und  …
Oskamp: … zufriedener. Ist allein, zu Hause, gießt die Blumen und ist wahnsinnig zu­frieden. Das gibt’s.

Wie kommt man dahin?
Oskamp: Warten!
Bracht: Man könnte auch sagen: Leben. Es gibt schon viel am Alter, was wahnsinnig schön ist.