Weißt du noch, liebe Omi?

Kaffee in weißen Kännchen – das erinnert unseren Autor an seine Großmutter. Eine Frau, die mit fast 90 über all die anderen Alten klagte und ihm zeigte, dass das deutsche Abendbrot doch ganz okay ist.

Foto Maurizio Di Iorio

Ach, Omi, weißt du noch, wie du die Alten in der Reha gedisst hast? Nach der Hüft-OP steckten sie dich für ein paar Wochen ins Heim. Ich kam dich mit Mama besuchen. Wir schlichen durch die Halle, die den Charme eines veralgten Aquariums hatte: grünes Glasdach, viel Sauerstoff aus Schläuchen, und aus wachsigen Sesseln starrten trübe Augen wie vorwurfsvolle Karpfen. Etwa so gesprächig war man auch. Du kamst uns in weißen Schlappen entgegengeeilt, fassungslos, und hast geschreiflüstert: »Himmelherrgott, Marvin, hier sind NUR alte Leute!« Da warst du selbst schon fast 90.

Drei Jahre ist das jetzt her. In zwei Wochen ist dein Geburtstag, Ende März. Als wir uns kennenlernten, warst du schon so alt, dass du nur jeden zehnten Geburtstag groß gefeiert hast: den siebzigsten, den achtzigsten. Es war irgendwann dazwischen, da saßt du mit Opa in unserem China-Restaurant. Ihr hattet es nach dem Wocheneinkauf entdeckt. Weißt du noch, wie die krossgebackene Ente geschmeckt hat? Danach habt ihr immer die Nummer 81 bestellt, du mit süßsaurer Soße, Opa mit der pikanten. Es war die erste krossgebackene Ente von vielen. Ich war damals noch ein Junge, gerade sieben Jahre alt, und saß an Tisch 15, unserem Tisch. Ich machte Hausaufgaben oder aß Peking-Suppe oder baute Kartenhäuser aus Bierdeckeln oder spielte Schlagzeug mit Besteck, was Gastro-Kinder eben so machen, bis ihr mich angesprochen habt: »Na, wer bist du denn?« Erst wart ihr Fremde, dann Gäste, irgendwann auch Freunde. Und schließlich Oma und Opa.

Ich wurde hier geboren, hatte aber keine Ahnung von deutscher Kultur. Die Essgewohnheiten der Deutschen waren mir ein Rätsel. Wieso heißt »Es gibt gleich Abend­essen«, dass man nach Hause gehen soll? Und wer hat sich das verdammt traurige »Abendbrot« ausgedacht? Vieles hast du mir bei­gebracht. Jeden Dienstag kam ich zu Besuch, und du hast deutsch gekocht: Rouladen, falscher Hase, gefülltes Kraut. Am Wochenende hast du uns zum großen Frühstück eingeladen, wir brachten Brötchen, und du hast Kaffee serviert, immer in weißen Kännchen. Meine Eltern, beide Arbeitstiere, waren hier so entspannt wie nie. Weißt du noch, die Geschichten, die Opa uns an diesem Eichentisch erzählte? Als er mit seinem Kumpel auf seiner ersten Schanghai-Reise »two beer« bestellte und dabei Daumen und Zeigefinger streckte wie eine Pistole, und der Kellner kam und stellte acht Krüge auf den Tisch (in China zeigt man so nicht die Zwei, sondern die Acht). Du warst nicht mit, weil du Flugangst hast, also erzählte dir Opa erst nach der Landung, wie hackedicht er damals war.

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Dann ist Opa krank geworden. Ich stand im Flur und lugte in den Wintergarten, auf den er so stolz war. Er lag auf der Couch, ich sah nur seine Füße. Opa wollte nicht, dass ich ihn so sehe, sondern nur, wie ich ihn kenne: ein großer Kerl mit schlohweißen Haaren, der trotz seines gebeugten Rückens noch immer stattlich aussah. Schon komisch, wann man gewisse Wörter lernt, oder? Damals merkte ich mir: Bauchspeicheldrüse.

Vielleicht war es nach Opas Tod, dass du auf einmal nicht mehr Omi warst, sondern nur noch Witwe. Unsere Telefonate wurden immer kürzer, du hattest Angst, meine Zeit zu stehlen. Weihnachten wolltest du nicht mitfeiern, nur keine Umstände, die ganze Fahrerei. Frühstück am Wochenende gab es nicht mehr, weil jeden Morgen die Pflegehilfe kam. Du wohntest weiter in diesem Haus, dieser schönen Stube mit den dunklen Fachwerk­balken. Aber das Leben war dann nur noch eine Reihe aufeinanderfolgender Tage. Dein letzter war ein Donnerstag im Oktober. Und beim letzten Telefonat, kurz davor, ganz als ob du es ahntest, fingst du noch mal an zu erzählen: Weißt du noch? Weißt du noch? Weißt du noch? Weiß ich, Omi. Und behalt ich.