An einem regnerischen Abend saß ich in einer Art Salon in einem dieser Hotels, in die man nur kommt, wenn man von freundlichen Menschen eingeladen wird, jedenfalls brannte ein Feuer im Kamin und drum herum saßen ältere Herrschaften in Tweed und spielten Backgammon. Es war so leise, man hörte die Spielsteine klappern, und für einen Moment kam es mir vor, als würde die Zeit aufhören zu vergehen, als hätte ich wenige Stunden zuvor kein Hotel, sondern eine zweite Wirklichkeit betreten, die auch vorher schon existiert hat – nur ohne mich. Ich blätterte extragemächlich durch die Getränkekarte, jede hastige Bewegung erschien mir unangemessen, als ich den Dark & Stormy entdeckte, einen Longdrink aus würzigem Rum, Ginger Beer und einigen Spritzern Limettensaft. Es ging mir nicht um den Drink, mir war nicht nach Alkohol, es war sein Name, der mich beschäftigte, es war tatsächlich so, dass ich minutenlang abwesend gewesen sein muss, als mich die livrierte Kellnerin sanft auf die Schulter tippte, um meine Kräuterteebestellung aufzunehmen.
Dark & Stormy – das klingt nur von einem holzvertäfelten Kaminzimmer aus behaglich. Lässt man die luxuriös entrückte Umgebung zur Seite, wird es schnell bedrohlich: Nein, man möchte nicht draußen sein, wenn es dunkel und stürmisch ist. Dunkel und stürmisch, das ist aber nicht nur eine vorübergehende Wetterlage, das kann sich auch auf eine Zeitspanne beziehen, eine historische Epoche, eine krisenhafte Phase des Übergangs. Etwas Altes endet, etwas Neues beginnt, aber man weiß noch nicht, wie dieses Neue sein wird. »Stark sind fortan Gesellschaften, die Schmerz ertragen können«, schrieb der Politikwissenschaftler Ivan Krastev im Jahr 2022 nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, und man ahnte schon damals, dass er sich nicht nur auf diesen Krieg bezog, sondern auf die Möglichkeit, dass die Weltordnung, in der wir es uns in den vergangenen Jahrzehnten mit einer Mischung aus Moral und Doppelmoral gemütlich gemacht hatten, ihrem Ende entgegengeht, ja dass wir womöglich schon bald Erfahrungen machen würden, von denen wir nicht einmal wussten, dass es sie gibt.
Vor Kurzem rief mich eine Freundin an, zwanzig Jahre jünger als ich. Sie hatte gelesen, dass in Russland täglich drei Panzer gebaut würden, und das könne doch nur bedeuten, dass der Krieg bald zu uns kommen würde, und selbst wenn nicht, blieben immer noch die Klimakatastrophe und ein paar andere unauflösbare Widersprüche. »Ich habe Angst«, sagte sie, »ich habe richtig Angst.« Wir unterhielten uns lange, ich versuchte sie zu trösten, irgendwann legten wir auf. Erst danach fiel mir auf, dass ich weder Angst vor einem Krieg noch vor dem Klimawandel habe, also ich denke schon auch sorgenvoll darüber nach, aber Angst – nein!
Hat es damit zu tun, dass ich mit knapp fünfzig noch einigermaßen unbeschadet durchrutschen könnte? Oder habe ich mich so an mein unbeschwertes Leben gewöhnt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es gerade endet? Anders gefragt: Bin ich ein Egoist? Mangelt es mir an Fantasie? Oder gibt es da noch etwas anderes, etwas Warmes und Sanftes, das stärker ist? Ich rede nicht von Optimismus, sondern von Hoffnung. Es ist ein bisschen peinlich, aber irgendwie hilft es, dass mir dann immer einfällt, was Aragorn in Herr der Ringe sagt: »Der Tag mag kommen, da der Mut der Menschen erlischt, da wir unsere Gefährten im Stich lassen und aller Freundschaft Bande bricht. Doch dieser Tag ist noch fern. Die Stunde der Wölfe und zerschmetterter Schilde, da das Zeitalter der Menschen tosend untergeht, doch dieser Tag ist noch fern! Denn heute kämpfen wir!«