Sirup nach Omas geheimer Rezeptur

Muscheln, Witwer, Holunderblüten – die Großmutter unserer Autorin sammelte fast alles. Aus letzteren machte sie einen Saft, der ihre Enkelin lehrte, was für eine Oma sie eines Tages selbst sein möchte.

Foto: Erli Grünzweil

Meine Großmutter hat alles Mögliche gesammelt, Miesmuscheln am Ostseestrand, rüstige Witwer in ihrem Witwendomizil in einem abgelegenen Spessartdorf (Zugangsvoraussetzung: Führerschein!), Bucheckern, Streuobst, Schlehen nach dem ersten Frost, und im Sommer Holunderblüten. In all ihre Sammelaktionen hat sie mich großflächig eingebunden, nur in die Suche nach Witwern nicht, wobei, einmal war es meine Aufgabe, ein gerade gefundenes Modell vor den ebenso findigen Augen ihrer Nachbarin Fanny zu verbergen: »Sag ihr, dass ich nicht da bin.« Währenddessen saß sie frohgemut mit ihrer neuen Eroberung, einem pensionierten Postboten, bei Piccolo und Leberwurst-Canapés in ihrem kleinen Wohnzimmer im Souterrain meines Elternhauses.

Das Sammeln von Muscheln fand in der aufgehenden Sonne auf Fehmarn statt, manchmal war es so windig, dass die festen weißen Haare meiner Großmutter senkrecht und waagerecht zugleich standen, ihr offener Bademantel flatterte um ihren massiven Körper, die Eimer in unseren Händen wurden schwerer und schwerer, und abends saßen wir hinter einem bunt gestreiften Windschutz und aßen Miesmuscheln in Weißwein, was damals noch vor allem meinen Großvater erfreute. Auf Waldspaziergängen gesammelte Bucheckern wurden üblicherweise sofort gegessen, November-Schlehen wurden zu Likör verarbeitet, und das Streuobst, Äpfel, Birnen, Pflaumen, zu Kompott. Das Geschäft mit den Holunderblüten allerdings war eine Wissenschaft. Meist standen sie im Juni in voller Pracht. Von meinem Elternhaus im Spessart mussten wir nur einmal über die Felder und unter den Obstbäumen durch, schon waren wir an dem von Holunderbüschen gesäumten Weg, nur ein schmales Bächlein, das vor allem von Fröschen als Geburtsstation und Kita genutzt wurde, trennte uns noch von den dicken, weißen Dolden am Waldrand. Meine Großmutter holte die Küchenschere raus und schnitt die Blütenstände an einem ganz besonderen Punkt des Stiels ab, der besondere Punkt war ihr sehr wichtig, ich habe nie begriffen, warum, es blieb ihr Geheimnis, und sie machte wirklich ein Riesengeheimnis daraus, womöglich nur, um aus dem gesamten Vorgang ein Geheimnis zu machen.

Ich sammelte die Blüten, wie auch die Muscheln immer und die Witwer nie, in einem Eimer, der aber nicht schwerer zu werden schien, egal, wie viele von den Dolden sie mir reichte. Die Holunderblüten waren wie fruchtig-süß duftende Wolken. Hier und da klebten winzige schwarze Käfer an den ebenso winzigen Blümchen. Mit den schwerelosen Eimern wieder nach Hause zu gehen, meine große Großmutter voran, ich hinterher, hatte etwas Erhabenes. Ich durfte die Eimer nicht schlenkern. Manchmal kam uns der Jäger mit Hund entgegen, der Jäger war mir unheimlich, der Hund nicht.

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Zu Hause angekommen spritzten wir mit dem Gartenschlauch die Käfer von den Blüten, und dann kam die große Glaskaraffe zum Einsatz – ich rührte Zucker in Leitungswasser, meine Großmutter schnitt Zitronen und Orangen in Scheiben, die dann zusammen mit den Holunderblüten in der Karaffe ziehen mussten, im Kühlschrank und mit Frischhaltefolie abgedeckt, mehrere Tage lang, ich durfte nicht luschern. Bis ich dann, irgendwann abends nach der Badewanne und in dem Augenblick vollkommen überraschend, ein kaltes Glas Holunderblütensaft zu in kleine Rauten geschnittenem Schnittlauchbrot bekam.

Meine Großmutter hat mit all dem den Kern dessen gesetzt, was ich jetzt langsam spüre, nämlich, was für eine Art von Großmutter ich mal sein werde: Halt die Kinder, bis auf Notfälle, aus deinen Liebesgeschichten raus. Bring ihnen statt der komplizierten Dinge die einfachen bei. Und mach um alles, was du tust, ein möglichst großes Geheimnis.

Anm. der. Redaktion: Bucheckern sollten nicht roh gegessen werden, dann sind sie leicht giftig.