Auf einem Bahnsteig nachts im Dezember in, sagen wir, Paderborn, kann einem Reisenden, der soeben seinen Anschlusszug nach, sagen wir, Gütersloh verpasst hat, die Kälte schnell durch den Mantel in die Seele kriechen. Dann steht er da und zittert, innerlich und äußerlich, der arme Mensch. Er will nicht hier sein und eigentlich auch nicht in Gütersloh. Doch wohin soll er sich wenden, auf einem Bahnsteig nachts im Dezember? Wo findet er Trost?
Es ist ein folgerichtiger Service, dass den im deutschen Schienennetz Verlorenen heiße Hühnerbrühe angeboten wird. Sie müssten nur ein paar Notgroschen in den Automaten werfen, und schon stünde es ihnen zur Verfügung: das Heilmittel für alle, die frösteln und den Tränen nah sind, in Ostwestfalen und anderswo.
Hühnerbrühe wirkt Wunder in prekären Lebenslagen, sie wärmt und kann nachweislich Erkältungssymptome verringern, wie eine Studie von Forschern aus Nebraska unlängst gezeigt hat. Das wussten auch schon Generationen von Großmüttern, das wussten die alten Ägypter, und Maimonides, ein andalusischer Gelehrter des 12. Jahrhunderts, wusste es auch. Sie sei »gut zur Wiederherstellung des Humors«, schrieb er damals. Gemeint war nichts Witzinduziertes, sondern die Mischung der Körpersäfte: Ist sie ausgewogen, ist man gesund, ist sie es nicht, ist man krank. Hühnerbrühe ist, wenn alles im Fluss ist. Maimonides wusste ja noch nichts von verspäteten Anschlusszügen.
Und doch sieht man auf Bahnsteigen nie jemanden an den Automaten treten, Hühnerbrühe zapfen und in der aufflackernden Sonne des elektrischen Lichts zu neuem Leben erwachen. Nie hört man jemanden, der gerade einen Becher Hühnerbrühe geext hat, »Aaaaah!« seufzen, erlöst von seiner Qual. Warum denn eigentlich nicht?
Nun zählt die Hühnerbrühe nicht zu den Soulfood-Trends. Sie ist aus der Mode geraten, wie Rommé, Sockenstopfen oder Karel Gott. Immer mehr Konsumenten stehen dem Fleischverzehr an sich schon kritisch gegenüber. Zwar essen viele noch tierische Produkte, aber die wenigsten wollen sie trinken. Flüssiges Tier erinnert sie offenbar an etwas allzu Archaisches, an Opferriten etwa zur Besänftigung eines strafenden Gottes. Erst wenn sie es, als Soße oder Suppe, mit dem Löffel zu sich nehmen, wenn es beim Schlürfen bleibt, können sie es genießen. Sie brauchen die Kulturtechnik des Löffelns, um sich nicht barbarisch vorzukommen.
Der Hühnerbrühe im Automaten aber liegt kein Löffel bei, auch keine weiße Tischdecke, keine Serviette, keine Kerze. Sie wird sich auch auf absehbare Zeit nicht zum Modegetränk aufschwingen, jedenfalls ist von einer Craft-Hühnerbrühe, gebraut von Kreuzberger Jungdruiden in kupfernen Kesseln, bisher nichts zu vernehmen. Sie lagert auf dem Bahnsteig, man muss es so sagen, als das Fleisch in seiner wohl abartigsten Form: als Pulver, als Granulat, als gemahlenes Huhn. Es rieselt traurig in den Becher, darauf dröppelt heißes Wasser, aus derselben Düse wie der Cappuccino. Hühnerbrühe wie diese hat nur noch den Namen mit dem Huhn gemein, das einst die liebe Oma in die Suppe warf. Es ist entfremdet von dem Menschen und der Mensch von ihm.
Dem Huhn ist das egal. Es ist so tot, wie ein Tier nur sein kann. Es kann warten, auf den, der verzweifelt genug ist, nachts im Dezember in, sagen wir, Paderborn.