Kollektive Kindheitserinnerung: die kunterbunten Kaugummibälle aus dem Automaten, der auf dem Weg zur Schule an der Backsteinmauer hing. Sie schmeckten nicht gut, aber verheißungsvoll: nach Früchten, die nicht auf der Erde wachsen, nach etwas Außerirdischem. Man verfiel unmittelbar auf die heimliche Hoffnung, dass gleich etwas Fantastisches geschieht. Dass man Autos hochheben kann. Einem Laseraugen wachsen. Oder man abhebt. So wie der Fliegende Ferdinand in der gleichnamigen tschechischen Serie, wenn er an einer Blume schnüffelt. Fliegen muss toll sein, dachte man. Und schob sich noch einen Kaugummiball in den Mund, noch einen und noch einen, bis die Groschen aufgebraucht waren.
Es gibt ein Getränk, das schmeckt, als hätte der Hersteller all die Kaugummibälle eingeschmolzen. Als hätte er dann den Saft, weil er ihm noch zu natürlich vorkam, synthetisiert und zu gleichen Teilen mit Süßstoff gemischt. Es schmeckt wie programmierte Limonade. Es heißt »Monster« und ist die ideale Brause für Roboter, die ihren Geburtstag mit Freunden feiern, mit dem intelligenten Backofen, der Mikrowelle und Alexa.
Nun gibt es aber Menschen, echte Menschen, und meistens sind sie jung, die dieses Getränk zu sich nehmen. Freiwillig und in rauen Mengen. Man sieht sie im Bus sitzen, versteckt in Daunenjacken, groß wie Schlafsäcke, mit einer Dose in der Hand. Man sieht sie in der U-Bahn, auf Spielplätzen lungern und in Einkaufspassagen, Statisten eines postapokalyptischen Blockbusters. Und immerzu nippen sie am Monster, als würden sie sich selbst mit einem Treibstoff betanken. Als würden sie sonst umfallen wie Marionetten, denen man die Fäden durchtrennt hat. Wer sind diese jungen Menschen? Und was ist nur mit ihnen los?
»Monster« ist ein sogenannter Energydrink und enthält 32 Milligramm Koffein je 100 Milliliter, das entspricht exakt der erlaubten Maximalkonzentration*. Es ist das Elixier einer übernächtigten Jugend, die ihre Müdigkeit nicht mit Schlaf bekämpft, sondern mit der Abschaffung desselben. Bereits 2012 konstatierten Wissenschaftler des Dillenburger Instituts für Gesundheitsförderung und -forschung, dass die Jugendlichen von heute zu wenig schlafen – laut der Studie auch eine Folge von nächtlichem Medienkonsum. Und wohl auch, so ist zu vermuten, von Wachmachern wie »Monster«, die die heiße Milch mit Honig aus den Kinderzimmern verdrängen.
Dagegen helfe, glauben die Übermüdeten, nur eine weitere Dose »Monster« – ein Teufelskreis. Es ist der Kaffee derer, denen Kaffee zu sehr nach Kaffee schmeckt, nach Pflicht, Frühschicht, dem Schweiß des Angesichts und Papas Scheißleben, und die darum lieber flüssiges Kaugummi saufen.
Doch was stellen sie nun an mit ihrer künstlich hergestellten Wachheit? Wohin mit all der nervösen Energie? Wir Älteren gehen fehl, wenn wir unken, aus diesen jungen Menschen werde nichts. Sie befinden sich an der Schwelle zu Berufen, die wir nicht kennen und begreifen, die, obwohl es sie schon gibt, für uns nach ferner Zukunft klingen: Influencer, Youtuber, Gamer, Uber-Driver, Food-Rider, Stock Replenishment Adviser, Waste Removal Engineers. Sie werden Geld genug verdienen, um sich ihr Monster zu kaufen, damit sie wach genug sind, um Geld zu verdienen.
Doch obwohl die Zukunft angebrochen ist, hat sie erneut ihr Versprechen nicht gehalten, das sie am Kaugummiautomaten gab: dass alle fliegen können. Fort von hier.
*in einer früheren Version des Artikels war hier von Höchstdosis statt Maximalkonzentration die Rede - der Gesetzgeber kann allerdings keine Dosis vorgeben, sondern lediglich die Konzentration in einer Flüssigkeit reglementieren.