Ich will hier raus: »Account löschen Facebook« ist eine häufige Google-Suchanfrage - vor allem sonntags.
Ich poste keine Fotos von Katzen. Ich poste keine Fotos von meinem Abendessen. Ich poste keine Lebensweisheiten. Ich leiste doch einen guten Beitrag. Ich verhelfe klugen Gedanken zu mehr Reichweite. Ich teile Online-Petitionen und lade Freunde zu Demonstrationen ein.
So nutze ich Facebook. Zumindest habe ich mir das jetzt sieben Jahre so eingeredet. Die Wahrheit ist das natürlich nicht.
Ich habe fast tausend Facebook-Freunde, und jeder einzelne von ihnen kann mich jederzeit mit irgendeiner beliebigen Statusaktualisierung aus der Reserve locken. Nichts kommt dagegen an. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich in den letzten sieben Jahren vielleicht vierzigmal einen Aufruf zu einer Demo geteilt – aber etwa tausendmal so oft witzige Bildchen, an die ich mich heute nicht mal mehr erinnere. Ich bin abhängig von einem Apparat, der mich von allem ablenkt, was mir langfristig wichtig ist: vom Rausgehen, Bücherlesen, Arbeiten, von meiner Tochter.
Ich entscheide mich für einen kalten Entzug und mache mir erst einmal einen Kaffee. Ohne Substitution werde ich das hier nicht durchziehen, denke ich, und koche vorsichtshalber gleich eine Kanne Espresso. Die Arbeit kann beginnen. Da ich viele aktive Jahre hinter mir habe, gibt es einiges an Material über mich. Facebook weiß, welche Fernsehserien ich mag, welche Bands, welche Cafés, wo ich wann Urlaub gemacht habe und vieles mehr. Diese Angaben möchte ich löschen, bevor ich mein Profil lösche, damit sie nicht als Datensatz mit meinem Namen verknüpft irgendwo bestehen bleiben. Zuerst entferne ich meine »Gefällt mir«-Angaben. Als ich die vierte Band »entliken« will, wird Facebook misstrauisch.
»Bitte bestätige deine Identität«, bittet Facebook und loggt mich aus. Ich soll erneut meinen Namen und mein Passwort eingeben. Das tue ich. Aber Facebook hat noch ein paar mehr Algorithmen auf Lager für eine verdächtige Userin wie mich. »Bitte bestätige mit einem Fotocheck, dass du Meike bist«, verlangt Facebook nun. Es wird spannend. Facebook zeigt mir diverse Fotos, in denen Facebook-Freunde von mir markiert sind, und ich soll unter den Fotos angeben, wer von meinen Freunden auf den Fotos zu sehen ist. Puh. Die meisten meiner Facebook-Freunde kenne ich natürlich gar nicht. Und selbst wenn: Viele von ihnen haben irgendein Bild als Profilfoto hochgeladen. Ich war nicht sicher, ob ich diesen Test bestehen würde. Erstaunlicherweise bestehe ich ihn ohne Fehler. Das Foto von einem Jutebeutel erkenne ich als Profilfoto von Freundin Eva, die Abbildung einer Milchschnitte als Profilbild von meinem Ex-Kollegen Rüdiger. Irre, was so ein Gehirn für einen Mist aufnimmt.
Ich darf weitermachen. Als ich damit fertig bin, beginne ich meine Fotos zu löschen. Nach dem vielleicht zehnten Bild zeigt Facebook sich erneut von seiner autoritären Seite. »Bitte bestätige deine Telefonnummer«, werde ich nun aufgefordert, und mir bricht der Schweiß aus. Jahrelang hatte ich Facebook keine Telefonnummer gegeben. Irgendwann hatte es damit begonnen, mich nach dem Anmelden immer wieder dazu aufzufordern. Später konnte ich mich nicht mehr einloggen, ohne eine Nummer anzugeben. Ich habe daraufhin einfach eine Fantasienummer eingegeben, und Facebook bat mich nun schon seit zwei Jahren immer wieder, diese Nummer zu bestätigen. Nun sollte mein Ausstieg also an diesem Unwillen scheitern, meine Telefonnummer herzugeben? So schnell wollte ich nicht aufgeben. Man kann die alte Nummer durch eine neue ersetzen, kriege ich raus. Ich krame eine alte Prepaid-Karte aus einer Schublade, gebe diese Nummer bei Facebook ein, erwarte die SMS und bestätige die Telefonnummer auf Facebook. Ich darf weiter löschen.
Ein Konto tatsächlich zu löschen erfordert einiges mehr an Arbeit.
Psychologisch versiert: Bei der Abmeldung schickt Facebook automatisch Fotos von Freunden, dazu den Satz: »Sie werden dich vermissen.«
In der Zwischenzeit pingt und pongt mein Facebook wie verrückt. Ich hatte in einem Status offenbart, dass ich mich aus dem System verabschieden wollte. Jetzt hatte ich nicht nur die Technik gegen mich, sondern auch meine Kontakte. Ich erhielt so viele Mails und Kommentare wie nie zuvor in meiner doch recht kommunikativen Facebook-Karriere. Die Finanzkrise hatte die Menschen weit weniger geschockt als mein Ausstieg – so schien es mir zumindest. Meine Facebook-Freunde bedauerten meinen Abgang, warnten, baten, redeten mir zu, einige waren ernsthaft fassungslos. Gibt es ein Leben nach Facebook?, begann ich mich zu fragen. Ich hatte nun schon seit Jahren keinen Geburtstag eines geliebten Menschen in einen Kalender eingetragen. Facebook hatte das für mich erledigt. Oder was war mit den Arbeitsaufträgen, die mich bisher über Facebook erreicht hatten? Ich spürte eine gewisse Wehmut, während ich googelte, wie man sein Facebook-Konto löschen kann, weil ich es in den Einstellungen einfach nicht fand. Ich erfuhr, dass es verschiedene Varianten gibt, Facebook zu »beenden«. Leicht zu finden in den Einstellungen war die Möglichkeit, mein Konto zu deaktivieren. Ein deaktiviertes Profil bleibt bestehen, ist aber unsichtbar, bis die Person es durch erneutes Einloggen wieder aktiviert. Ein Konto tatsächlich zu löschen erfordert einiges mehr an Arbeit. Facebook versteckt diese Möglichkeit sehr geschickt, um nicht zu sagen perfekt. Erst außerhalb von Facebook, auf Seiten von Bloggern, finde ich eine Anleitung, um überhaupt erst mal zum Menüpunkt »Facebook endgültig löschen« zu gelangen.
Aber das soziale Netzwerk ist nicht nur technisch versiert, sondern auch psychologisch. Es wird plötzlich rührselig und zeigt mir Fotos meiner Facebook-Freunde.
Marion wird dich vermissen, behauptet es, und zeigt mir ein Foto von mir und Marion. Marion wohnt im selben Bezirk, ihr Sohn besucht dieselbe Schule wie meine Tochter und wir gehen oft gemeinsam joggen. Für Freitag sind wir wieder verabredet für einen gemeinsamen Lauf. Sie braucht mich nicht zu vermissen. Auch andere User werden mir gezeigt, denen ich nun das Herz brechen würde. »Möchtest du dich nicht lieber verabschieden?«, fragt Facebook scheinheilig. Verabschieden bei Freunden, die Facebook mir vorgeschlagen hat, die ich gar nicht wirklich kenne, mit denen ich mich nur online verknüpft habe? Diese Fremden sollen nun auf einmal eine persönliche Verabschiedung verdient haben? Facebook gibt mir Nachhilfe in Sachen Freundschaftsetikette? Ich werde sauer. Kurz.
In der Emo-Slideshow taucht plötzlich ein Foto von Ricardo auf, dem Regisseur aus Portugal. Ricardo saß irgendwann in einem Kreuzberger Café an einem Tisch in meiner Nähe und fragte mich, was ich mir notieren würde. So kamen wir ins Gespräch über Literatur und Kunst. Ricardo und ich wurden Freunde, er erklärte mich kurzerhand zur Hauptfigur seines nächsten Videoprojekts. Einen Monat lang drehten wir einen Film, von dem ich nie herausfand, worum es eigentlich ging. Er reiste wieder ab. Erst über ein Jahr später schickte Ricardo mir via Facebook das Ergebnis. Ich war zu Tränen gerührt. Noch heute, wenn ich irgendwo an einem der Drehorte vorbeikomme, dem Friedhof auf der Hermannstraße, dem Café in der Graefestraße oder in der Hasenheide, muss ich an diese seltsame Zeit der Vertrautheit ohne Worte denken. Tatsächlich würde ich es vermissen, seine Bilder zu sehen. Er postet oft Bilder von seinen Skulpturen oder eigene Videos, was für mich immer unseren wortlosen Dialog verlängert hat. Hin und wieder erfahre ich so, was er so macht und dass es ihm gut geht. Für eine aufwendigere Art von Freundschaft wäre in meinem Alltag keine Zeit. Ich hole mir ein Glas Rotwein, gehe alle Erinnerungen an ihn durch und versichere mich, dass ich sie im Kopf habe und nicht nur im Netzwerk.
Also weiter. Facebook fragt noch mal, ob ich mir sicher sei. Es ist das vierte Mal inzwischen. Anschließend muss ich meinen Ausstieg noch begründen. Die Möglichkeit, diese Frage einfach offen zu lassen, besteht nicht. Aber Facebook gibt Antwortmöglichkeiten vor, über zehn. An einer bleibe ich hängen: »Ich habe das Gefühl, dass ich gar nicht mehr weiß, wer welche Inhalte von mir sehen kann.« Stimmt. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich völlig ohne Kontrolle poste. Ich setze ein Häkchen in das Kästchen vor dieser Abmeldungs-Begründung. Enter. Aber Facebook will mich einfach nicht gehen lassen. Statt ein »Danke, Ihr Profil wurde gelöscht« zu sehen, werde ich auf die Hilfeseite des sozialen Netzwerks weitergeleitet. Hier wird mir lang und breit erklärt, wie ich meine Privatsphäre richtig regulieren kann und wie ich überprüfen kann, wer wann was sieht. Ich fühle mich verarscht. Auch alle anderen Antworten, die Facebook bei der Abmeldung als möglichen Grund angibt, führen auf Hilfeseiten. Nur ein Weg führt zum Ausstieg: Ich muss den Grund selbst eintippen. Ich schreibe: »Gefällt mir nicht«, und das ist in dem Moment so wahr wie nie zuvor. Dann darf ich endlich löschen. Noch einmal das Passwort, noch ein Captcha-Code und Enter. Geschafft.
Von wegen. Facebook teilt mir mit, dass man große Entscheidungen im Leben nicht überstürzen sollte. Ich erhalte den Hinweis, dass Facebook jetzt erst mal testet, ob ich es auch wirklich ernst meine. Nach der Löschung besteht mein Profil noch für weitere zwei Wochen. Würde ich mich in dieser Zeit erneut einloggen, wäre es unmittelbar wieder freigeschaltet. Um das zu verhindern, klebe ich mir ein Post-it an den Laptop. »Nicht zu Facebook«, steht da drauf. Einfach für den Fall, dass ich etwa morgens halb wach mal vergesse, dass ich mich abgemeldet habe, und ferngesteuert – wie über Jahre trainiert – meine Daten oben rechts in die Masken eintippe. Das habe ich aber nicht getan. Und jetzt ist es offiziell. Mein Facebook-Account ist gelöscht. Gefällt mir.
Illustration: Leonhard Rothmoser