Vorige Nacht kam Sabrina Carpenter um zwei Uhr zu mir. Ich wachte auf, tappte ins Bad, wollte nur kurz auf Toilette. Thinking ’bout me every night ooooh, is it that sweet? I guess so. Ich lief zurück zu meinem Bett, legte mich unter die schwere Daunendecke, hoffnungsvoll, dass Sabrina Carpenter nicht mit in mein Schlafzimmer käme. Sie sang in meinem Kopf unbeirrt weiter. That’s that me espresso.
Hilfe. Es hört einfach nicht mehr auf.
Natürlich hatte ich schon früher Ohrwürmer. Lieder, die ich durch das Hintergrundgedödel beim Einkaufen im Supermarkt aufgeschnappt hatte oder durch das Autoradio. Aber selbst wenn mich die Lieder manchmal ein paar Tage lang begleiteten – irgendwann verschwanden sie wieder. Heute kommt mir diese Phase in meinem Leben wie eine Oase der Ruhe vor. Denn seit einigen Monaten verfolgen mich Ohrwürmer, die alle eines gemeinsam haben: Ich habe sie mir auf Instagram eingefangen. Weil ich mir dort Reels angeschaut habe, kurze Videos, die mit Musik hinterlegt sind. Und anders als meine Ohrwürmer früher gehen mir die neuen für viel längere Zeit nicht mehr aus dem Kopf. Ich denke an die Lieder, wenn ich einkaufe, arbeite, esse, fernsehe, mit Freundinnen telefoniere, einschlafen möchte.
Wenn ich eine Liste meiner Ohrwürmer erstellen will, muss ich nur schauen, welche Reels-Hintergrundmusik in den vergangenen Monaten besonders erfolgreich war. Es fühlt sich an, als wären diese immer gleichen Liedfragmente sehr tief in meinen Kopf eingepflanzt worden. Als würden sich dort gerade einige Dinge umsortieren. Natürlich kenne ich längst die Berichte, dass sich meine Aufmerksamkeitsspanne verschlechtern kann, wenn ich viel in sozialen Netzwerken bin. Aber dass ich mich schlechter konzentrieren kann und dabei ständig innerlich Musik höre, lässt mich dann doch nicht los. Ich beschließe, der Sache auf den Grund zu gehen.
Warum bin ich überhaupt so viel auf Instagram?
Ja, das ist die offensichtlichste Frage. Denn es gäbe ja eine einfache Lösung für mein Problem – nämlich weniger Zeit in den sozialen Netzwerken zu verbringen. Stattdessen öffne ich die App jedes Mal, sobald mein Partner aus dem Zimmer geht, ich öffne sie, während ich eigentlich ein Buch lese, ich öffne sie im Bad beim Zähneputzen, wenn ich auf Toilette gehe sowieso. Allein während ich diesen Absatz schreibe, habe ich sie schon dreimal gedankenverloren auf- und – mit ein bisschen Wut auf mich selbst – wieder zugemacht.
Es ist fast lustig, dass ich trotzdem dachte, dass ich vielleicht 30 Minuten am Tag mit dem Handy auf Instagram verbringe. Für diesen Text schaue ich nach: Ich war in den Tagen zuvor jeden Tag mehr als eine Stunde da, manchmal waren es fast zwei. Obwohl ich jede Art von Wartezeit mit Instagram überbrücke, hätte ich das niemals realistisch eingeschätzt. Das ist kein Wunder: Die App ist darauf ausgerichtet, Zeit beiläufig verstreichen zu lassen. Durchschnittliche TikTok-Nutzer verbringen jeden Tag mehr als eine Stunde in dem Netzwerk, Instagram-Nutzer etwa eine halbe.
Warum höre ich Sabrina Carpenter manchmal zehnmal hintereinander singen, wenn ich Reels schaue?
TikTok und Instagram binden die Aufmerksamkeit ihrer User nach einem ähnlichen Prinzip. Ich kenne es als Instagram-Nutzerin nur zu gut: Ich fange an, ein Video zu schauen, vielleicht sogar von einem Account, dem ich folge. Irgendwann wische ich weiter – und ein Algorithmus wählt aus allen Videos von Instagram als nächstes das aus, das ebenfalls zu meinen Vorlieben passen könnte. Schaue ich auch dieses Video zu Ende, speichere ich es oder schicke ich es meinen Freunden, merkt sich Instagram: Das muss ein Treffer gewesen sein. Mehr davon! Und ich bleibe in einer Dauerschleife aus kurzen Videos hängen, die immer besser zu meinen Interessen passen.
Instagram weiß über mich, dass ich zum Beispiel Golden Retriever, Katzen, Bürohumor, Pinguine und Otter mag. Wenn ich aber zum Beispiel ein Reel über einen Golden Retriever zu Ende schaue, das mit Musik von Sabrina Carpenter hinterlegt ist, denkt Instagram, dass auch Sabrina Carpenter mir gefallen oder das Lied besonders eingängig für mich sein muss, und spielt mir in den nächsten Minuten immer neue Videos mit der Musik vor. Und natürlich ist es folgenreicher, ein Lied binnen weniger Minuten mehrmals hintereinander angespielt zu bekommen, als es einmal im Radio zu hören.
Der Algorithmus hat eine riesige Auswahl, wenn er nach dem nächsten Video für mich sucht: Aktuell sind mehr als 2,6 Millionen Videos auf der Plattform mit Espresso von Carpenter hinterlegt – also mit dem Lied, das mich nachts so gequält hat. Dass so viele Nutzerinnen und Nutzer diese Musik für ihr Video wählen, ist kein Zufall. Denn wenn Nutzer bei ihren Videos einen Trend-Sound verwenden, also ein Lied, das gerade auf der Plattform viral geht, ist es wahrscheinlicher, dass das Video vom Algorithmus ausgespielt wird – an einen anderen Nutzer, der auf dem Lied schon ein bisschen hängengeblieben ist. Es ist ein Anreiz wie bei einem Schneeballsystem: Wer mitmacht, könnte Teil des Erfolgs werden.
Die Trend-Sounds dieses Sommers waren zum Beispiel die Lieder Apple von Charli xcx und Texas Hold ’Em von Beyoncé, also Lieder, die auch in den Charts weit oben waren.
Genauso erfolgreich können aber auch kurze Songschnipsel sein, die fast nicht als Lied erkennbar sind – bei einem meiner hartnäckigsten Ohrwürmer singt jemand einfach nur: Oh nooo, oh nooo, oh no no no no no. Andere Trend-Sounds erinnern an gut gelaunte Untermalung von Stummfilmen, das macht sie leider nicht weniger ohrwurmtauglich.
Was passiert in meinem Kopf, während ich die süßen Golden-Retriever-Videos mit Musik-Untermalung sehe?
Um das herauszufinden, rufe ich Christian Montag an, der als Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm arbeitet. Dass ich den richtigen Menschen kontaktiert habe, merke ich, als ich ihm von meinem Sabrina-Carpenter-Ohrwurm erzähle und er zurückfragt: »Ist es bei Ihnen das Lied Taste oder das Lied Espresso?«
Zunächst dämpft er meine Erwartungen etwas – alle Fragen, die ich mir stelle, seien mit neurowissenschaftlichen Forschungsmethoden schwer zu untersuchen, vieles sei auch den Forschenden noch unklar. Es gibt aber immer wieder Hinweise darauf, dass sowohl die visuellen Reize sozialer Medien wie auch Musik das Belohnungssystem im menschlichen Gehirn aktivieren. Es wird vermutet, dass daraufhin Dopamin ausgeschüttet wird – ein Botenstoff, der eine freudige Anspannung erzeugt, der motiviert, weiterzusuchen, und besonders aufnahmefähig macht. Immer wieder haben Studien nahegelegt, dass Dopamin dem Gehirn hilft, Informationen besser zu verarbeiten.
Hinzu komme, sagt Christian Montag, dass sich »emotionale Inhalte besonders gut in unser Gedächtnis einbrennen«. Reels sind dafür gemacht, Gefühle zu wecken. Instagram wählt Themen aus, die mich emotional abholen, dann sind die Videoaufnahmen selbst oft emotional, und die Musik im Hintergrund betont das noch mal. Macht zum Beispiel ein Hund irgendetwas entfernt Lustiges, läuft Musik im Hintergrund, die wie mit rotem Warnblinkzeichen sagt: Das ist sehr lustig! Und bei mir bleibt dadurch überraschend viel im Kopf hängen, obwohl ich längst weitergewischt habe.
Was hat das alles mit dem Musikmarkt zu tun?
Viel. Denn wenn ich ständig auf Instagram oder TikTok dasselbe Lied höre und im Anschluss ständig daran denke, setzt der Mere-Exposure-Effekt ein. Auch von diesem hat mir Christian Montag erzählt. Der Effekt lässt sich einfach zusammenfassen: Selbst wenn man am Anfang einer Sache neutral gegenübersteht, mag man sie irgendwann, wenn man nur häufig genug damit konfrontiert wird. Ich kenne das von mir. Nachdem ich die Lieder Apple von Charli xcx und Texas Hold ’Em von Beyoncé im Frühjahr und im Sommer gefühlt hundertmal auf Instagram gehört hatte, suchte ich sie mir ständig auf Spotify heraus. Ich hatte meine Instagram-Ohrwürmer lieb-gewonnen.
Ich bin mit meinem Verhalten nicht allein. Wenn man etwa auf die Spotify-Streaming-Charts des Sommers schaut, liest es sich wie die Bestenliste der Instagram- und TikTok-Sounds. Dass die beiden Netzwerke wie Brandbeschleuniger wirken, bestreitet in der Musikwelt niemand mehr. Nicht immer lässt sich der Effekt messen – Beyoncé hätte es mit Texas Hold ’Em auch so in die Charts geschafft, für sie sind TikTok und Instagram nur ein weiterer Anschub. Aber andere Fälle machen deutlich, wie wirkungsvoll dieser Anschub sein könnte. Auf einmal stand Anfang des Jahres zum Beispiel das Lied Unwritten von Natasha Bedingfield auf Platz fünf der deutschen Single-Charts, obwohl es zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt war: Nachdem es im Film Wo die Lüge hinfällt aufgetaucht war, ging das Lied auf Instagram und TikTok viral. Allein auf TikTok nutzen es gerade mehr als 125 000 Videos als Hintergrundmusik. Manche filmen sich dabei, wie sie im Regen stehen (Bedingfield singt unter anderem die Zeile: »Feel the rain on your skin«), andere schminken sich zu der Musik, ein Video zeigt eine nasse Katze, die ihren Kopf unter den Strahl einer Dusche hält. So werden heute Chart-Hits geboren.
In diesem Fall kam der Anstoß von der Filmindustrie, die längst Sequenzen einplant, die so wirken, als wären sie eigens dafür geschaffen worden, viral zu gehen. Dass auch die Musik erfolgreich wird, ist hier nur ein Nebeneffekt.
Aber auch die Musikindustrie reagiert auf die Social-Media-Gesetze. Lieder werden so konzipiert, dass sie auch in fünfzehnsekündigen TikTok-Ausschnitten funktionieren oder man besonders gut mit ihnen interagieren kann, also mitsingen oder einen Tanz dazu machen kann.
Solche viralen Trends können Grundlagen ganzer Karrieren sein. Nehmen wir Sabrina Carpenter, die nicht nur die Königin meiner Ohrwürmer ist, sondern im Juli dieses Jahres auf Platz fünf der meistgestreamten Künstlerinnen und Künstler auf Spotify stand. Obwohl sie seit einem Jahrzehnt Alben veröffentlicht, hatte sie lange keinen nennenswerten kommerziellen Erfolg. Bis ihre Followerzahlen auf Instagram und TikTok durch die Decke gingen – weil sie so gut darin ist, selbst virale Videos zu drehen und zum Beispiel darin direkt dazu aufruft, dass man dreimal mit dem Video interagieren solle. Und sie macht auch in ihrer Song-Struktur kleine Dinge richtig, wie Fachleute sagen. Zum Beispiel starte Espresso nicht – wie die meisten Lieder früher – mit einer Strophe, sondern direkt mit dem Teil, der am besten ins Ohr geht: dem Refrain. Der wiederum die perfekte Länge für kurze Videos hat.
Lässt sich der Erfolg also planen?
Vermutlich in Teilen. Aber dann gibt es noch den Faktor, dass das Schneeballsystem auch Lieder groß machen kann, die sonst niemals weltweiten Erfolg hätten haben können. In diesem Jahr ging etwa das Lied The Spark auf Instagram, TikTok und in meinem Kopf viral. Irische Kinder hatten es bei einem Osterferienkurs geschrieben, sie rappen darin über ihr Selbstbewusstsein.
Es gibt auch einen deutschen Überraschungserfolg: Marti Fischer und Bodo Wartke mit dem Lied Barbaras Rhabarberbar. Die Liedermacher sprechsingen darin einen Zungenbrecher über den bombastischen Rhabarberkuchen von Barbara, im Hintergrund läuft dazu ein sehr eingängiger Beat. Die Grundlage des weltweiten Erfolgs war, dass zwei Australierinnen – eine davon mit Cowboyhut – auf einer Toilette zu Barbaras Rhabarberbar tanzten und sich dabei filmten.
Menschen weltweit machten den Tanz nach, das Lied war auf TikTok für kurze Zeit erfolgreicher als Beyoncé, weswegen die New York Times Bodo Wartke und Marti Fischer interviewte und mit etwas Verwunderung über die generelle Begeisterung Deutscher für saisonales Obst und Gemüse schrieb.
Wie fühlt sich ein solcher Überraschungserfolg denn an?
Anruf bei Bodo Wartke. Der Kabarettist und Liedermacher tritt an dem Abend in Osnabrück auf. Er sagt, er habe vor dem internationalen Erfolg schon gedacht, dass man zumindest Deutsch verstehen müsse, um das Lied zu mögen. »Heute denke ich, dass sich die Freude, die wir an der Sache haben, anscheinend einfach überträgt.« Er erzählt noch viel mehr: dass, wenn er auf seinen Konzerten frage, woher ihn die Menschen kennen, mittlerweile die häufigste Antwort »aus dem Internet« sei. Dass der surrealste Moment dieser Wochen schon das New York Times-Interview gewesen sei. Dass ihm Menschen auf Social Media erzählen, dass das Lied in anderen Ländern im Radio läuft, und jemand ihm schrieb, dass er gerade in einem Flughafencafé in Palermo sitze und die Kellner dazu getanzt hätten. »Es berührt mich, dass sich die Welt bei allen Differenzen anscheinend irgendwie auf dieses Lied einigen kann.«
Auf meine wichtigste Frage hat Wartke eine kurze Antwort. Ob er selbst das Lied manchmal als Ohrwurm habe, so wie ich ständig? Er lacht und sagt: »Ja, natürlich.«