»Wir alle hatten Angst«

Anfangs wurde Aids »Schwulenkrebs« genannt, dann infizierten sich auch Heterosexuelle. Man wusste nicht: Ist Küssen ansteckend? Immer mehr Menschen starben, es half kein Medikament, eine Impfung gibt es bis heute nicht. Die 40-jährige Geschichte des HI-Virus – erzählt von Zeitzeugen.

Nicholas Nixons Foto von 1987 wurde berühmt: Es zeigt den an Aids erkrankten Harvard-Studenten Robert Sappenfield mit seinen Eltern.

Foto: © Nicholas Nixon, Robert, Ginny and Bob Sappenfield, Dorchester, Massachusetts, 1988 (August) courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco

Am 5. Juni 1981 berichtet ein kalifornischer Wissenschaftler im Wochenblatt der ­US-Gesundheitsbehörde über ungewöhnliche Pilzinfektionen und Lungenent­zündungen bei sonst gesunden, jungen Männern. Ihr Immunsystem war offenbar zusammengebrochen. Am 3. Juli erscheint in der »New York Times« ein Artikel über ähnliche Krankheitsfälle in New York. Die Erkrankten sind ebenfalls Männer, promiske Homosexuelle. 1982 stellt sich heraus, dass die Krankheit auch bei Drogensüchtigen und Blutern auftritt. Die Suche nach der Ursache beginnt – und eine weltweite Angst.

EDMUND WHITE, US-amerikanischer Schriftsteller Ich hörte zum ersten Mal von Aids, das damals GRID – Gay-related immune deficiency – genannt wurde, als ein Haushalt schwuler Männer in einem Sommerhaus auf Fire Island daran erkrankt sein sollte. Wir scherzten, dass es vielleicht durch Schnurrbärte verursacht wurde. Oder durch Poppers? Zu viel Sex? Anilingus? 1981 lud der Autor Larry Kramer vierzig andere New Yorker Schwule in sein glamouröses, mit Büchern ausgekleidetes und im Industrial-Chic-Stil eingerichtetes Wohnzimmer ein. Ein Arzt hielt eine Ansprache, er erzählte uns, dass es eine lebensbedrohliche Krankheit gibt, die schwule Männer betrifft, und schlug vor, dass wir alle aufhören, Sex zu haben. Wir nickten, hielten aber Larry und den Arzt für verrückt. Larry hatte 1978 einen Roman mit dem Titel Schwuchteln veröffentlicht, den wir alle verurteilten, weil er voller Sexhass und Selbsthass war. Der Stonewall-Aufstand, das war der Beginn der amerikanischen Schwulenbefreiung, hatte zwölf Jahre zuvor stattgefunden. Viele von uns hatten ihr Leben aufgeteilt in »Liebhaber« – das waren ständige Begleiter –, »Freunde mit Nutzwert« – also gelegentliche Sexkumpel – und »Stiche« – Partner nur für eine Nacht. Die Religion war auf dem Rückzug, selbst Psychiater hatten sich überzeugen lassen, Homosexualität nicht mehr als Neurose, sondern als ­Variante zu klassifizieren, viele von uns gingen nachts in Parks, Bars oder Bäder auf der Jagd nach Sex. Wir hatten schwule Freunde, verkehrten bei schwulen Ladeninhabern, verbrachten den Sommer in schwulen Ferienanlagen. Warum um alles in der Welt sollten wir in unseren besten Jahren die schwule sexuelle Freiheit aufgeben, nur weil ein Dutzend schwuler Männer gestorben war? Dann waren es mehrere Hundert. Dann Tausende.