»Wir alle hatten Angst«

Anfangs wurde Aids »Schwulenkrebs« genannt, dann infizierten sich auch Heterosexuelle. Man wusste nicht: Ist Küssen ansteckend? Immer mehr Menschen starben, es half kein Medikament, eine Impfung gibt es bis heute nicht. Die 40-jährige Geschichte des HI-Virus – erzählt von Zeitzeugen.

Nicholas Nixons Foto von 1987 wurde berühmt: Es zeigt den an Aids erkrankten Harvard-Studenten Robert Sappenfield mit seinen Eltern.

Foto: © Nicholas Nixon, Robert, Ginny and Bob Sappenfield, Dorchester, Massachusetts, 1988 (August) courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco

Am 5. Juni 1981 berichtet ein kalifornischer Wissenschaftler im Wochenblatt der ­US-Gesundheitsbehörde über ungewöhnliche Pilzinfektionen und Lungenent­zündungen bei sonst gesunden, jungen Männern. Ihr Immunsystem war offenbar zusammengebrochen. Am 3. Juli erscheint in der »New York Times« ein Artikel über ähnliche Krankheitsfälle in New York. Die Erkrankten sind ebenfalls Männer, promiske Homosexuelle. 1982 stellt sich heraus, dass die Krankheit auch bei Drogensüchtigen und Blutern auftritt. Die Suche nach der Ursache beginnt – und eine weltweite Angst.

EDMUND WHITE, US-amerikanischer Schriftsteller Ich hörte zum ersten Mal von Aids, das damals GRID – Gay-related immune deficiency – genannt wurde, als ein Haushalt schwuler Männer in einem Sommerhaus auf Fire Island daran erkrankt sein sollte. Wir scherzten, dass es vielleicht durch Schnurrbärte verursacht wurde. Oder durch Poppers? Zu viel Sex? Anilingus? 1981 lud der Autor Larry Kramer vierzig andere New Yorker Schwule in sein glamouröses, mit Büchern ausgekleidetes und im Industrial-Chic-Stil eingerichtetes Wohnzimmer ein. Ein Arzt hielt eine Ansprache, er erzählte uns, dass es eine lebensbedrohliche Krankheit gibt, die schwule Männer betrifft, und schlug vor, dass wir alle aufhören, Sex zu haben. Wir nickten, hielten aber Larry und den Arzt für verrückt. Larry hatte 1978 einen Roman mit dem Titel Schwuchteln veröffentlicht, den wir alle verurteilten, weil er voller Sexhass und Selbsthass war. Der Stonewall-Aufstand, das war der Beginn der amerikanischen Schwulenbefreiung, hatte zwölf Jahre zuvor stattgefunden. Viele von uns hatten ihr Leben aufgeteilt in »Liebhaber« – das waren ständige Begleiter –, »Freunde mit Nutzwert« – also gelegentliche Sexkumpel – und »Stiche« – Partner nur für eine Nacht. Die Religion war auf dem Rückzug, selbst Psychiater hatten sich überzeugen lassen, Homosexualität nicht mehr als Neurose, sondern als ­Variante zu klassifizieren, viele von uns gingen nachts in Parks, Bars oder Bäder auf der Jagd nach Sex. Wir hatten schwule Freunde, verkehrten bei schwulen Ladeninhabern, verbrachten den Sommer in schwulen Ferienanlagen. Warum um alles in der Welt sollten wir in unseren besten Jahren die schwule sexuelle Freiheit aufgeben, nur weil ein Dutzend schwuler Männer gestorben war? Dann waren es mehrere Hundert. Dann Tausende.

SALOMÉ, deutscher Künstler New York kam uns 1980 in Berlin weit weg vor. In Schwulenzeitschriften sah man die ersten Bilder von Leuten mit Kaposi-Sarkom. Wie abgemagert die Leute waren. Ich hatte damals einen Freund, Rolf von Bergmann, der in New York lebte und erste Berichte darüber schrieb, dass die Leute dort wie die Fliegen starben und man ihnen in den Krankenhäusern nicht helfen konnte. Die Leute sind grauslich gestorben.

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HARRY BAER, ehemaliger Regieassistent von Rainer Werner Fassbinder und Schauspieler Ein Lufthansa-Steward soll Patient Null in Deutschland gewesen sein, der das Virus aus San Francisco mitbrachte. Unser Wohnzimmer war das Lokal »Deutsche Eiche« in München, und kurz vor Rainers Tod 1982 fing es an: Ein Stammgast nach dem anderen tauchte nicht mehr auf. Allein in den ersten Jahren waren das dreißig, vierzig, fünfzig bekannte ­Gesichter.

Robert Gallo begann in den Sechzigerjahren in der Krebsforschung. Parallel zu den französischen Virologen-Kollegen entdeckte der Amerikaner Gallo das HI-Virus, der Medizin-Nobelpreis 2008 wurde aber Luc Montagnier und seiner Mitarbeiterin Françoise Barré-Sinoussi zuerkannt.

Foto: imago/Danita Delimont

ROBERT GALLO, Direktor des Instituts für Humanvirologie an der medizinischen Fakultät der Universität von Maryland in Baltimore, USA Unsere Jagd nach der Ursache für Aids begann streng genommen erst im Frühjahr 1982. 1983 fingen wir an, das neue Retrovirus zu isolieren, das später HIV hieß und das wir damals HTLV-3 nannten. Im Oktober 1983 kam der Durchbruch: Es gelang uns, das Virus kontinuierlich zu züchten. Wir hatten noch keinen Beweis dafür, dass dieses Virus tatsächlich die Ursache für die Krankheit war, niemand hatte den. Dennoch war es ein Glücksmoment, denn wir verfügten nun über genügend Viren, um einen Bluttest zu entwickeln und Medikamente gegen das Virus testen zu können.

HARRY BAER Es hat gedauert, bis man verstanden hat, dass es nicht nur Schwule trifft. Wenn ich daran denke, was wir nach der Studentenbewegung ’68 zehn Jahre lang getrieben haben, und zwar jeder mit jeder und jedem, alles ohne Gummi, konnte man leicht versucht sein, Aids als Strafe Gottes zu verstehen, wenn man denn an einen glauben würde. Aber die zehn Jahre zuvor waren die geilste Zeit meines Lebens. Hat es vorher und nachher nie wieder gegeben.

SALOMÉ Wir waren 1969 durch die Reform des Paragrafen 175 etwas befreit worden, die gesellschaftliche Diskriminierung war aber nach wie vor da. Damit konnte man etwas anfangen. Gegenbilder malen. Sexualität, Intimität, der Mann als Sexobjekt, das waren meine Themen, die in der Kunst damals ein Nischendasein fristeten.

»Die Presse reagierte Hysterisch. Der Ruf nach Ghettos für schwule Infizierte wurde laut«

ROBERT GALLO Wir bekamen eine Menge anonymisierter Serumproben von Aids-Patienten aus dem ganzen Land. Und von Kontrollgesunden, also normalen Leuten oder Leuten mit ­anderen Krankheiten wie Herzinfarkt. Wir testeten die Serumproben positiv oder negativ auf das HI-Virus. Im Frühjahr 1984 traf ich James Curran von der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC zum Mittagessen, es war ein sonniger, klarer Tag. Wir öffneten den Umschlag: Die positiven und negativen Serumproben waren den richtigen Personen zugeordnet worden. Wir schüttelten uns die Hände und lächelten. Das war der zweite Heureka-Moment. Jedes Labor weltweit könnte bald mit einem Bluttest den Nachweis einer Infektion erbringen. Und wir wussten nun, dass das neue Retrovirus die Ursache von Aids war.

EDMUND WHITE Ab 1983 lebte ich in Paris und blieb dort 16 Jahre lang. Nach Michel Foucaults Tod durch Aids nahm ich an den ersten Treffen von AIDES teil, der französischen Hilfsorganisation, die von Daniel Defert mitgegründet worden war, Foucaults Partner.

Rosa von Praunheim drehte 1971 den Film Nicht der ­Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, löste damit quasi die Schwulen- und Lesben­bewegung in Deutschland aus und machte sich zur Leitfigur.

Foto: ddp/Alexander Wittmann

ROSA VON PRAUNHEIM, Filmemacher Niemand wusste, wie sich die Krankheit, die Aids genannt wurde, überträgt. Über den Dampf in Saunas? Beim Küssen? Ich hatte schreckliche Fantasien. Ich küsste trocken und betrieb Analverkehr nur mit Kondomen. Wir alle hatten Angst, uns testen zu lassen. Warum auch? Die Krankheit schien tödlich, es gab keine wirksamen Medikamente. Als ich einen Liebhaber fickte, der 1985 als ­einer der Ersten HIV-positiv getestet war, riss mein Kondom, ich bekam Albträume.

ROBERT GALLO Wir ließen zu keinem Zeitpunkt die Sekt­korken knallen, wir standen immer unter Druck, weil ständig mehr Leute gestorben sind. Als wir mit »Das HIV-Virus ist die Ursache« daherkamen, waren ­einige Aids-Aktivisten nicht glücklich. Ich habe nie erwartet, mit Rosen beworfen zu werden, aber mit ­dieser Kritik hatte ich nicht gerechnet. Die Aktivisten sagten: Mit diesem Bluttest brandmarkt ihr uns, und wir bekommen keine Versicherung und keinen Job mehr – wir brauchen eine Therapie, die wirkt! Ich dachte, was ist denn da los? Denken die, dass wir Wunderheiler sind? Es gibt keine Therapie für eine systemische Viruserkrankung. Es ist nicht wie bei Bakterien, die einen eigenen Stoffwechsel haben und die man deshalb gezielt ­angreifen kann. Aber es stimmte ja, mit dem Bluttest konnte man Bluttransfusionen sicher machen, man konnte die Epidemie verfolgen, das hat der öffentlichen Gesundheit geholfen, aber nicht dem einzelnen Infizierten.

EDMUND WHITE Ich wurde 1985 in Zürich positiv diagnostiziert. Damals musste der Test noch nach San Francisco geschickt werden, und einen Monat später kam das Ergebnis. Mein Schweizer Liebhaber war negativ. Wir trennten uns bald darauf. Ich hatte das Gefühl, mit der Krankheit in Frankreich ­allein zu sein. Eine Weile hatten auch heterosexuelle Menschen in Frankreich Angst, sich irgendwann anstecken zu können, aber diese Angst verging bald. Überall kursierten schreckliche Geschichten, die meisten davon waren nicht belegbar: Zwischen bestimmten Bundesländern in Deutschland würden Sperren errichtet, in Schweden würden Aids-Patien­ten auf eine Insel verbannt, in Frankreich würden nur wenige Zahnärzte HIV-positive Patien­ten behandeln.

Harry Baer lernte Rainer Werner Fassbinder (rechts) Ende der Sechzigerjahre kennen, schloss sich dessen antit­eater an und arbeitete bis zu Fassbinders Tod mit ihm zusammen. ­Obwohl er seitdem in zahllosen ­Filmen mit­gespielt hat, wird er immer wieder nach den Fassbinder-Jahren gefragt.

Foto: ullstein bild/Erika Rabau, 

JUDY WINTER, deutsche Schauspielerin Ein mir sehr lieber, vertrauter Mensch ist an Aids gestorben. Von seiner Krankheit wussten nur ein Arzt, sein Freund und ich. Aus Angst vor den Reaktionen. Es ging wahnsinnig schnell. Ich war noch morgens bei ihm, habe ihn lange mitgepflegt. Er ist furchtbar ­gestorben, er hat sehr gelitten. Schön war, dass er zu Hause war, Hand in Hand mit seinem Freund. Die beiden hatten vorher eine Reise nach Mallorca gemacht, noch mal in die Sonne, aber sie durften nicht mehr zum Essen in den Speisesaal kommen.

RITA SÜSSMUTH, damalige Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Im Herbst 1985 wussten wir nichts. Wir hatten weder hinreichend diagnostische Mittel noch eine ­Ahnung, woher kommt dieses Virus, in welcher Weise überträgt es sich? Die Tests wurden in Deutschland erst sechs Wochen später eingeführt.

ELISABETH POTT, damalige ­Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Viele in der Bevölkerung waren hoch verunsichert, sogar hysterisch. Sie hatten Angst, durch den Park zu gehen, wo Abfallkörbe standen, in die jemand ein Taschentuch geworfen hatte.

»Viele haben sich nicht in die Aidshilfen getraut, aus Angst, gesehen zu werden«

JUDY WINTER Ich habe Frauen erlebt, die sich angesteckt haben. Rauschgiftsüchtige. Prostituierte. Ehefrauen durch ihre Männer, die auf Dienstreisen waren. Eine Frau, die vergewaltigt wurde. Ich habe oft gedacht, mein Gott, was habe ich Glück gehabt.

RITA SÜSSMUTH Aus der ­Zusammenarbeit mit den Aids-Hilfen und deren engem Kontakt zu den Betroffenen erkann­ten wir, wie unbedingt notwendig es war, sich zu schützen. Das Thema Kondome kam auf, viele waren empört: Wie kann man darüber sprechen? Sie verdrängten, dass Sexualität zum Menschen gehört. Es war auch für mich eine große Umstellung, wir alle waren nicht gewohnt, über Sexualität zu sprechen. Die Sprache, die da herrschte, auch bei den Aids-Hilfen, war erschreckend unbeholfen – keine Zärtlichkeit, keine Empathie, keine Behutsamkeit.


Elisabeth Pott Die Ärztin war von 1985 bis 2015 die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Bei der Präventionskampagne »Mach’s mit« war ihr wichtig, dass sie auch zur Solidarität aufforderte.

Foto: dpa/AP/Bernd Kammerer

ELISABETH POTT Die Stimmung war fragil und schwulenfeindlich. Selbst die Berichterstattung des Spiegel schürte ­damals Panik und begünstigte Homophobie. Und dann gab es diesen selbst ernannten Seuchenexperten aus Schweden, ­Michael Koch, der wollte die Leute auf eine einsame Insel bringen. Die Isolations- und Ausgrenzungsstrategie ist von einigen Leuten vertreten worden. In Deutschland war es vor allem Peter Gauweiler. Es war schwer, dagegenzuhalten, aber das ist Gott sei Dank Frau Süssmuth gelungen.

ROSA VON PRAUNHEIM Die Presse reagierte hysterisch. Der Ruf nach Ghettos für schwule Infizierte wurde laut. Die Angst, dass man schwule Kellner, Friseure, Krankenpfleger diskriminieren würde, war groß.

RITA SÜSSMUTH Natürlich gab es harten Widerstand gegen mich – diese kleine Frau, keine Ahnung, keine Medizinerin, die wird sich nicht durchsetzen können. Ich wurde zur Außenseiterin. In diesen Tagen, Monaten, Nächten, die wir dafür geackert haben, habe ich gemerkt, ich gebe nicht gerne auf. Helmut Kohl stand in der Sache hinter mir und sagte: Machen Sie es, aber still. Aber wenn Gauweiler Vorschläge machte, die ich absolut nicht vertreten konnte, wie wir infizierte Menschen nicht mehr unter uns haben würden, musste ich intervenieren. Diese Konservativen waren stark. Niemand durfte sagen, dass er ein Homosexueller war, das geschah alles im Verborgenen.

PETER GAUWEILER, damaliger Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium des Innern Im Vergleich zur Corona-Debatte von diesem und letztem Jahr hatten wir bei Aids, einer viel tödlicheren Infektionskrankheit, sanfte schutzpolitische Maßnahmen durchgesetzt, die damals als sehr restriktiv galten. Sie reichten von einer anonymisierten Meldepflicht in Form einer Laborberichtspflicht über einen verpflichtenden Bluttest bei begründetem Infektionsverdacht bis hin zu Hygieneauflagen bei Hauptrisikogruppen. Auflagen für Reisen in Aids-Risikogebiete wären undenkbar gewesen. Was die bayerische Gesundheitspolitik in dieser Zeit tat, war das Sammeln möglichst umfangreicher Daten über das Ausmaß der ­Epidemie und die Unterbrechung von Infektionsketten, wo immer das möglich war. Wir ­haben landesweit die ersten kos­tenlosen Testprogramme in Deutschland für die Betroffenen organisiert und an den bayerischen Universitäten hoch­dotierte Forschungsprogramme aufgelegt, mit dem Ziel, das Virus zu bekämpfen. Bayern hatte mit seinen Maßnahmen damals das getan, was man seit 1982 bundesweit hätte tun müssen.

EDMUND WHITE Präsident Reagan vermied es, das Wort Aids auszusprechen, obwohl er Hollywood-Schauspieler gewesen war und viele schwule Männer kannte.

RITA SÜSSMUTH Ich habe die Virologen Gallo aus den USA und Montagnier aus Frankreich zum Kanzler gebracht. Sie haben ihm gesagt: Prävention ist das Wichtigste. Weg von der Ausgrenzung und der Zwangskontrolle. Denn damit werden Sie Menschen nicht gewinnen. Die haben Angst – die Betroffenen, aber auch die Nichtbetroffenen.

Rita Süssmuth 1987 präsentierte Süssmuth (links im Bild) eine Plakatserie zur Aids-Aufklärung. In einem berühmten Spot damals rief eine Kassiererin: »Tina, watt kosten die Kondome?« Eigentlich sollte es Rita heißen, aber da legte Süssmuth ein Veto ein.

Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

ROBERT GALLO Wir veröffentlichten unsere Ergebnisse zum HI-Virus, man sagte uns, der Patentschutz für das Testverfahren sei wichtig, um Betrug zu verhindern. Dann führten die amerikanische und französische Regierung einen Kampf darum, ob nun wir oder das Team von Luc Montagnier zuerst HIV als Ursache von Aids entdeckt hätten. Natürlich gab es anfangs Spannungen zwischen uns Wissenschaftlern, aber wir haben nie gelogen, nie behauptet, als Einzige das Virus isoliert zu haben. Nur: Wir konnten es zum Wachsen bringen, gleich sechs Mal, Montagniers Team hat das nie geschafft.

ROSA VON PRAUNHEIM Die Aids-Hilfen haben nie großen Wert auf Prävention gelegt. ­Plakatwerbung und bedruckte Streichhölzer genügen einfach nicht, sie scheuten sich davor, vor Ort auf Sexpartys zu stören. Ich sprach mit Szenewirten, mit Sauna- und Darkroombesitzern, bat sie, Safer-Sex-Teams in ihre Räume zu lassen. Die Abscheu einiger prominenter Szenegrößen gegen Kondome war absurd. Es fielen Sätze wie: Nicht das Virus ist gefährlich, sondern die Presse, die Panik schürt. »Jeder hat das Recht auf Aids«, sagte mir Anfang der Neunzigerjahre der Liebe Sünde-Moderator Matthias Frings in die Kamera.

»Ich begriff, welcher Diskriminierung Schwule ausgesetzt sind«

ELISABETH POTT Die lokalen Aids-Hilfen haben ganz bewundernswerte Arbeit geleistet. In Deutschland ist das Gesundheitswesen stark getrennt, jeder macht seins. Hier hat zum ersten Mal eine Selbsthilfeorganisation ein enormes Wissen akkumuliert und Präventionsarbeit gemacht, sie sind in Schulen gegangen und in die Szene, schwule Saunen, Kneipen, sie haben Kondome und Aufklärungsmaterial ausgelegt und mit Leuten vor Ort besprochen, dass damit auch gearbeitet wird. Wenn Menschen erkrankt waren, haben sie sich um die gekümmert, sie einge­laden oder mitgenommen zu Veranstaltungen. Viele waren religiös und haben die Kranken zu Gottesdiensten mitgenommen. Es gab auch Gottesdienste speziell für schwule Männer.

JUDY WINTER Viele haben sich nicht in die Aids-Hilfen getraut, aus Angst, gesehen zu werden. Aber es war für Betroffene toll, dass sie überhaupt irgendwohin gehen und über ihre Probleme reden konnten.


Edmund White Der amerikanische Schriftsteller, heute 81, gilt als Meister des autobiografischen Schreibens und ist ­immer auch als Chronist der Schwulenemanzipation aufgetreten. Im Juli erscheint von ihm Meine Leben im Albino Verlag. Er lebt mit seinem Ehemann in New York.

Foto: Getty Images/Ulf Andersen

HARRY BAER 1988 sah ich das letzte Interview mit dem Schauspieler Kurt Raab kurz vor seinem Tod, da hat es mich fast vom Stuhl gehauen, bis auf die Knochen abgemagert und dreißig Jahre älter sah er aus. Auch ­Rainer Werner Fassbinder wäre sicherlich gefährdet gewesen, er hat sich ja gern in den übelsten Ecken von New York rumgetrieben. Ich habe verdammt viel Glück gehabt. Meine Rettung war eine feste Beziehung ab 1981, die 14 Jahre hielt und mir das ganze Rumgehure erspart hat.

SALOMÉ Ich war nie der promiske Typ, der jede Nacht einen neuen Kontakt hatte, sondern eher auf Beziehung fokussiert, die ich immer hatte und 1984 in New York auch wieder fand. Trotzdem habe ich auch in der Beziehung Safer Sex gemacht, weil man eigentlich niemandem mehr vertrauen konnte.

PETER FREESTONE, damaliger persönlicher Assistent des Queen-Sängers Freddie Mercury, heute Englischlehrer in Tschechien Mir sagte es Freddie 1987 einige Wochen nach der Diagnose. Seiner Band zwei Jahre später, Innuendo würde ihr letztes Album werden, weil er kein weiteres aufnehmen könnte. Seine Familie erfuhr es erst in seinem letzten Lebensjahr, 1991. Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz am 10. November hat er seine Medikamente abgesetzt. Vor dem Haus wartete die Presse 24 Stunden lang. Freddie wusste, dass er, sobald er das Haus einmal betreten hätte, nie wieder herauskommen würde. Deshalb hat er so lange gewartet, bis Jim Beach, Manager von Queen, eine Erklärung in seinem Namen abgab. Freddie wollte kein Mitleid, und er wollte Freunde und Familie vor der Presse schützen. Aber er wollte auch nicht, dass seine Erkrankung wie ein schmutziges Geheimnis aussähe, das unter den Teppich gekehrt werden sollte. Und er wollte, dass die Welt wüsste: Wenn jemand wie er es bekommen kann, dann kann es jeder bekommen. Egal wie viel Geld du hast, egal wer du bist. Er wusste nicht, dass er da nur noch zwei Tage Zeit haben würde. Ich glaube, der Gedanke an den Tod selbst hat ihn nicht beunruhigt. Er wusste, dass er eher früher als später sterben würde.

RITA SÜSSMUTH Für mich war damals wahnsinnig wichtig: Respektiert auch den anderen in seiner Andersartigkeit. Ich habe sehr viel gelernt, gerade von Homosexuellen. Welche Kultur sie miteinander pflegen. Wie sie miteinander umgehen. Mein Hauptberater Professor Siegfried Rudolf Dunde kam sehr bald, nachdem ich im Ministerium war, von einer anderen obersten Behörde und fragte, kann ich bei Ihnen anfangen? Er lebte mit einem Mann zusammen. Leider ist Herr Dunde längst verstorben, an Aids im Jahr 1993.

Peter Freestone war von 1980 bis zu dessen Tod 1991 Freddie Mercurys (links) persönlicher Assistent und enger Freund. Der Queen-Sänger nannte Freestone »Phoebe«.

Foto: Peter Freestone

JUDY WINTER Mein Freund, der starb, war im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin, bei Professor L’age, einem wunderbaren Arzt. Einmal in der Woche nachmittags, am Mittwoch oder Donnerstag, brachten die Freunde der Kranken Kuchen auf die Station mit, es wurde Kaffee gekocht und geratscht und gelacht, und man dachte nicht daran, dass man auf der Todesstation ist. Eine Woche später kamen die, mit denen man letzten Mittwoch noch Kaffee getrunken hatte, nicht mehr aus ihren Zimmern. Eine weitere Woche später waren sie tot.

ROSA VON PRAUNHEIM Ich drehte vier Filme über Aids, ­darunter 1985 den Spielfilm Ein Virus kennt keine Moral, mit dem ich viele Veranstaltungen machte. Viele junge Schwule lachten mich bei einer Vorstellung aus. Ich wurde als Moral-apostel verschrien, nicht weil ich gegen Sex war, sondern sehr explizit für Safer Sex, und nicht verstehen konnte, dass die Schwulen sich so schwer damit taten, die Heterosexuellen hatten damit ja schon lange Erfahrung. Als ich ein paar Jahre später in dieselbe Stadt kam, war die Hälfte der blonden Jünglinge infiziert. Meine Artikel im Spiegel wurden angegriffen und meine Aids-Trilogie – drei Filme über den Kampf gegen Aids in New York und Berlin – von den Aids-Hilfen boykottiert. 

ELISABETH POTT Die Leute von der Aids-Hilfe haben sich hinterher bei mir bedankt, dass sie mal von einer Behörde eingeladen wurden, sie kannten sonst nur konspirative Treffen an Bahnhöfen oder Flughäfen. Da habe ich begriffen, welcher Diskriminierung und welchen Ängsten schwule Männer ausgesetzt sind.

RITA SÜSSMUTH Wenn wir auf der Straße mit der Büchse gesammelt haben, kamen alte Frauen und alte Männer auf uns zu und sagten, für die geben wir keinen Pfennig, diese Schmutzfinken werden jetzt bestraft! Dann gab es aber Schulkinder, die von ihrem wenigen Taschengeld die Büchse füllten. Man merkte, die spürten, dass das Thema uns alle anging.

Peter Gauweiler wurde als junger Politiker vom ­damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß ge­fördert, machte sich einen Namen als Law-and-Order-Mann und ­empfand Rita Süssmuths Mittel zur Aids-Bekämpfung seinerzeit als ­unzureichend.

Foto: bpk/Peter Gruchot

JUDY WINTER Am Welt-Aids-Tag stand ich mit Guido Westerwelle an der Berliner Gedächtniskirche und sammelte für die Aids-Hilfe. Ich wurde an­gespuckt. Ich habe auch Drohbriefe bekommen, ohne Absender, die wurden mir in den Briefkasten gesteckt. Da hatte ich furchtbare Angst. Einige Briefe habe ich bei der Polizei abgegeben.

RITA SÜSSMUTH Das war so ansteckend, dieses: Das müssen wir gemeinsam schaffen. Das war ein großes Wir damals. Tag und Nacht überlegten wir, wie können wir den Menschen klarmachen, dass wir sie nicht bekämpfen? Ein Leitsatz wurde: »Wir bekämpfen die Krankheit, nicht die Erkrankten.« Man braucht Leitsätze, mit denen man auch andere Menschen ­anfeuert. Nie werde ich den Novemberabend 1987 in Berlin vergessen. Außer Bayern gingen alle anderen zehn Bundesländer mit auf den Weg der Prävention. Das war ein beglückender Abend.

»Man stirbt ja immer noch an Aids, aber langsam«

EDMUND WHITE Dutzende meiner Freunde und Ex-Geliebten in Frankreich und den Staaten starben. Bezeichnenderweise wurde der Partner eines Mannes, der an Aids gestorben war, oft aus der Wohnung verwiesen, in der sie beide gelebt hatten. Ich war einer der wenigen bekannten Schwulen, die offen über ihren medizinischen Status sprachen. Ich veröf­fentlichte 1987 zusammen mit Adam Mars-Jones ein Taschenbuch mit Aids-Kurzgeschichten, The Darker Proof, das war ein früher Versuch einer Verarbeitung.

ROSA VON PRAUNHEIM 1991 habe ich bei RTL Hape Kerkeling und Alfred Biolek geoutet. Ich wollte erzwingen, sich offen dem Kampf gegen Aids anzuschließen. Das war mein Ende in der Aidspolitik. Man drohte mir an, mich für immer aus den Fernseh­sendern zu verbannen, Mord­drohungen kamen, und viele Schwule, die im Geiste auf ­meiner Seite waren, wechselten das Lager. Man warf mir Selbstdarstellung vor. Aber ein Freund von mir war in der Nacht vor der Talkshow gestorben, und ich wollte einen Stein werfen. Von Biolek und Kerkeling las ich Jahre später, dass sie froh waren, offen schwul sein zu dürfen.

Salomé Nach dem Tod seines Freundes Rolf von Bergmann malte der deutsche Künstler einen Bilderzyklus zum Thema Aids, der 1988 in Berlin zu sehen war: Vollbild Aids – eine Kunstausstellung über Leben und Sterben.

Foto: TV-yesterday/Wolfgang Maria Weber

SALOMÉ Bei meinem Assistenten wurde in den späten Neunzigern Aids entdeckt, drei Monate später war er tot. Dann kam die Mutter, hat die Wohnung aufgelöst und ihren toten Sohn mit in ihr Heimatdorf genommen. Da habe ich gehört, dass man den anderen Dorfbewohnern gesagt hatte, er sei an Krebs gestorben. Damit die Familie nicht diskriminiert wird, hat man verheimlicht, dass man einen schwulen Sohn hatte, der an Aids gestorben ist. Der hätte ja noch den Friedhof verseuchen können.

ROSA VON PRAUNHEIM Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker hielt 2005 in der Frankfurter Paulskirche einen Vortrag mit dem Titel »Abschied von Aids«, in dem er meinte, dass die große Aidsgefahr aus­gestanden und die stark erhöhte Zahl von Neuinfektionen bei Schwulen nicht so tragisch zu nehmen sei. Meine Erfahrung sah anders aus: 2005 starb meine Lieblingstunte, die großartige Ovo Maltine, mit 38 Jahren an Aids, und der Modedesigner BeV StroganoV lag ein halbes Jahr lang mit qualvoller Chemotherapie gegen Aids im Krankenhaus, beide Protagonisten in meinem Film Tunten lügen nicht. Dann starb, nach langem Leiden, mein ehemaliger Liebhaber, der seit Anfang der Achtzigerjahre infiziert war und lange überlebt ­hatte. Gute Freunde waren mir ­erhalten geblieben durch die neuen Medikamente, aber eine Heilung nicht in Sicht, und ­Prävention, also das strikte Benutzen von Kondomen, sollte heute noch ernst genommen werden. Die Gefahr, dass der Körper gegen die Medikamente Resistenz aufbaut, ist groß. Aber viele junge Schwule wollen Spaß haben, ­finden Kondome ekelhaft und spielen Russisch Roulette. Die Seuche hat sich verlagert auf Afrika und Asien, auf Südamerika und Osteuropa. Dort ist es vor allem die ­Kirche, die sich mit Rechtsradikalen verbündet und Schwulenhetze betreibt. Auf ­einer Demonstration in Moskau wurde der Grünen-Abgeordnete Volker Beck tätlich angegriffen, in ­Polen wurde ein Schwuler ­ermordet, viele zusammengeschlagen.

»In deutschen Schulen haben Lehrer und Schüler Angst, sich zu outen«

SALOMÉ Ich habe bis heute 25 Freunde durch Aids verloren. Dazu kommen sicher fünfzig, die ich nur entfernt kannte. Man stirbt ja immer noch an Aids, aber langsam. In Deutschland sterben etwa 300 Menschen im Jahr an Krankheiten in Zusammenhang mit Aids. Man kann heute halt länger überleben. Ich habe viele Freunde, die Langzeitüberlebende sind, worüber ich sehr glücklich bin. Aber man sieht es an all den körperlichen Gebrechen, die sie durch diese Therapie entwickelten. Gesund ist man nicht mehr. Im Gesicht wird das Fett schnell abgebaut und sammelt sich am Bauch. Leber, Niere nehmen Schaden. Es war noch anstrengender, als jeder jeden Morgen einen Berg Tabletten fressen musste. Jetzt ist es nur noch eine pro Tag, und es gibt auch schon Variationen mit Depotspritzen. Natürlich alles nur im reichen Westen, im Rest der Welt sterben die Leute unbehandelt weiter daran.

ELISABETH POTT Später gab es ja andere Möglichkeiten, auch medikamentöse, sich vor Ansteckung zu schützen oder eine Ansteckung durch antiretrovirale Therapie frühzeitig so zu therapieren. Wenn man über längere Zeit richtig gut eingestellt war, sank die Viruslast dauerhaft unter die Nachweisgrenze, und man war weitgehend nicht mehr ansteckend. Aber man muss die Medikamente dauerhaft nehmen, weil es keinen Impfstoff gibt, bis heute nicht. Und man muss sich schon auch fragen, was ist die Langzeitwirkung? Kondome sind bis heute die einzige neben­wirkungsfreie Schutzmöglichkeit vor HIV/Aids und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten.

ROBERT GALLO Es gibt die unterschiedlichsten Probleme auf der Suche nach einem Impfstoff. Zum Beispiel will man die T-Zellen aktivieren, aber das ist ein zweischneidiges Schwert: Wenn man zu weit geht, bereitet man den Boden für HIV, denn aktivierte T-Zellen sind der Ort, wo das Virus sich reproduziert. Ich arbeite mit einer Gruppe französischer Kollegen an einem anderen Ansatz. Aber es wird ­ extrem schwierig. Von Luc Montagnier habe ich seit 25 Jahren nichts mehr gehört, ich weiß gar nicht, wo er heute steckt.

JUDY WINTER Ich bin bis heute aktiv in der Berliner Aids-Hilfe. Die Schleife trage ich immer, nicht nur an Sonn- und Feiertagen. Es ist mir wichtig, dass diese Menschen nicht ausgegrenzt werden.

EDMUND WHITE Ich überlebte, weil ich ein »slow progressor« war. Als meine T-Zellen-Zahl Mitte der Neunzigerjahre sehr niedrig war, hatten die antiviralen Therapien bereits eingesetzt. Weil ich in Interviews so offen über meinen Status gesprochen hatte, lehnten mich viele Leute in den Jahren ab, in denen es noch keine Medikamente zur Ansteckungsvorsorge gab.

ROSA VON PRAUNHEIM In deutschen Schulen, vor allem in denen mit hohem Migrationsanteil, haben Lehrer und Schüler Angst, sich zu outen. In den meisten Ländern der Welt, in ­islamischen und christlichen bis nach China, gibt es das gemeinsame Feindbild der Schwulen. Auch der Papst spricht sich gegen Kondome aus und verurteilt Schwule als Todsünder. Der Kampf ist noch lange nicht vorbei: der Kampf für schwule Rechte und der Kampf gegen Aids.

JUDY WINTER Die Schauspielerin war in den Siebzigerjahren in Simmel-Verfilmungen zu sehen, dann am Theater als ­Marlene Dietrich, heute in Familie Bundschuh. Sie ist Kuratorin der Berliner Aids-Hilfe und Mitgründerin der jährlichen Gala »Künstler gegen Aids«.

Foto: Wahapress/A. Strenciocht

PETER FREESTONE Mit meinem Freund Milan Satnik, einem Musiker, habe ich einen Vortrag für Jugendliche entworfen, mit Einführungsfilm: Freddie auf dem Höhepunkt seiner Karriere, stark und unzerstörbar. Ich nehme die Schüler dann mit durch die letzten vier Jahre seines Lebens vom Zeitpunkt seiner Diagnose an, erzähle ihnen, was er durchmachen musste, vom Kaposi-Sarkom bis zum Verlust seines Augenlichts, der Film wird am Ende unscharf. Danach dürfen die Schüler alles fragen, was sie wollen. Sie reden ja normalerweise nicht über Aids. Ich glaube nicht, dass viele junge Leute Aids immer noch für eine Schwulenkrankheit halten. Wir haben in den vergangenen sieben Jahren zu etwa 16 000 Schülerinnen und Schülern in den USA, in Russland, Serbien, Mexiko, der Schweiz oder Tschechien gesprochen.

RITA SÜSSMUTH Aids hat die Gesellschaft verändert, auch im Positiven. Dinge, die früher nicht laut ausgesprochen werden durften, sind zu einer weitgehenden Selbstverständlichkeit geworden. Aber wir merken: Nichts ist für immer. Wir müssen immer wieder aufpassen, dass altes Denken nicht zurückkehrt. Diese Warnung von Hannah Arendt: Sagt nicht »Nie wieder«. Wir sind in vielen Themen – Antisemitismus, Rassismus, Homosexualität, Kindesmissbrauch, Gewalt an Frauen – durchaus noch nicht am Ziel. Im Gegenteil. Auch die Corona-Zeit hat zu neuer Aggressivität geführt. Es gilt täglich acht zu haben, dass nicht ein neuer Absolutismus einzieht.