Bla Bla Bla

Wir hören nicht zu: Jeder will nur reden, reden, reden - und stellt sich taub, sobald andere das Wort ergreifen. Warum?

Vor einiger Zeit, als noch Boulevard Bio im Fernsehen lief, war ein 18-jähriges Mädchen, Katharina, zu Gast, das an Mukoviszidose litt. Katharina ist inzwischen gestorben. Damals, zu Bio, kam sie mit ihrem Freund. Alfred Biolek las eine Frage von seiner Karte ab: »Streitet ihr auch manchmal?« Katharinas Freund zögerte und antwortete schüchtern: »Schon.« Darauf Biolek, geistesabwesend: »Ach, ja, schön.« Das Publikum buhte, Biolek las die nächste Frage von seiner Karte ab. Hier hatte einer nicht zugehört, und das ärgerte die Zuschauer. Immerhin.

Denn das Zuhören, darüber sind sich die Theoretiker einig, gerät ins Abseits in einer Gesellschaft, die immer selbstbezogener, schneller, effizienter ist, in der alle unter Druck arbeiten, lesen, essen, sprechen, Zuhören ist etwas Langsames, es signalisiert Interesse an der Welt, Interesse an anderen. Und widerspricht damit einer dominanten Kultur. Die Erinnerung schwindet, dass das Zuhören Bestandteil eines Lebens in der Gesellschaft ist. »Wenn jemand heute hören würde, dann – leider – vor allem in sich selbst hinein«, sagt die Berliner Erziehungswissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr. »Viele Menschen reden und reden und halten es für selbstverständlich, dass alle Welt ihnen zuhört.« Der Mensch, so scheint es, entwickelt sich im Laufe seines Lebens vom guten zum schlechten Zuhörer. Bei alten Menschen fällt auf, dass sie in der Regel nur noch reden und nicht mehr zuhören wollen. Und das liegt nicht bloß daran, dass ihre Oh-ren oft schlecht geworden sind, aber es verstärkt den Eindruck, dass sie das Zuhören verlernt haben. Zu Beginn des Lebens ist es genau anders herum: Zuzuhören ist die einzige Möglichkeit des Menschen, in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten: Das Baby horcht auf die näher kommenden oder sich entfernenden Schritte der Mutter und entwickelt daraus eine erste Logik; es hört die vertraute Stimme, die zärtliche Laute von sich gibt und eine Sprache spricht; es erlernt diese Sprache dann selbst, indem es die Mutter imitiert. Das Zuhören ermöglicht Orientierung, erschafft einen Lebensraum, in dem das Baby sich geborgen fühlt, weil es die Geräusche wiedererkennt, die ihm immer vertrauter sind.

Jedes Kleinkind hört begeistert Geschichten zu. Ich habe meinem Sohn, als er zwei Jahre alt war, sicher hundertfünfzig Mal den König der Löwen vorgelesen. Er hat mir auch beim hundertundfünfzigsten Mal hochkonzentriert zugehört und es sind ihm immer neue Fragen zu dem Buch eingefallen. Ich hingegen wusste manchmal nicht einmal, an welcher Stelle wir gerade waren. Zum Glück hat mein Sohn immer aufgepasst wie ein Luchs.

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Doch dann: Je älter das Kind wird, desto weniger hört es zu. »Gleich«, sagt mein Sohn, heute 14, wenn ich ihn um etwas bitte, und fängt an, etwas anderes zu tun. Erwidere ich, gleich heiße gar nichts, antwortet er: »Du sagst doch immer: gleich. Und dann passiert gar nichts.« Was stimmt. Wie häufig habe ich ihm höchstens halb zugehört, während ich Salat gewaschen, Socken aufgehängt, E-Mails gecheckt habe. Früher konnte er gar nicht genug bekommen von den Geschichten seiner Großmutter. Heute mault er, wenn die Oma zu Besuch kommt und man von ihm erwartet, dass er sich zu ihr an den Tisch setzt. Am liebsten würde er sich die Kopfhörer seines iPods aufsetzen und laut Musik hören.

Und in gewisser Weise hat er sogar recht damit: Indem ein junger Mensch anfängt, nicht zu hören, löst er sich von den Eltern, widersetzt sich der Autorität, emanzipiert sich. »Wer nicht hören will, will möglicherweise nicht gehorchen«, sagt die Kulturwissenschaftlerin Ute Bechdolf. Hören – horchen – gehorchen, da besteht keine zufällige etymologische Verwandtschaft. Zuhörende waren seit je die, die auf andere hören mussten: Schüler, Gläubige in der Kirche, Frauen, Untergebene.

Die Welt ist lauter geworden. Der Lärmpegel in deutschen Städten hat sich in den 15 Jahren von 1976 bis 1991 verdoppelt. Und das Umweltbundesamt stellte 2002 fest, dass achtzig Prozent der Deutschen sich »in irgendeiner Weise vom Lärm betroffen« fühlen. Der Lärmpegel beansprucht die Aufmerksamkeit der Menschen so stark, dass es ihnen immer schwerer fällt, sich zu konzentrieren. Unter Lärm aber werden häufiger Fehler begangen. Man schätzt, dass durch Lärm am Arbeitsplatz die Produk-tivität um zehn Prozent vermindert wird. Schlimmer noch: Experimente haben gezeigt, dass die Hilfsbereitschaft der Menschen bei Lärm nachlässt. Ist es leise, rea-gieren sie viel eher, wenn jemand ihre Hilfe braucht.

»13 Uhr: Patient hat gut gegessen. 16 Uhr: Ehefrau des Patienten verstorben. 18 Uhr: Abendbrot.« So lautete das Übergabeprotokoll in einem Krankenhaus – dort, wo neben der medizinischen Betreuung die Bereitschaft zuzuhören so ziemlich am nötigsten wäre. Doch die Wirklichkeit sieht so aus: Möchte ein Patient über seine Sorgen reden, sagt die Schwester lieber, sie koche jetzt mal einen Tee, denn so ein warmer Tee, der tut gut. Sie vermeidet es zuzuhören – aus Zeitmangel, aber auch aus Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen. Dabei wollen die meisten Leidenden keine Ratschläge erteilt bekommen – sie wollen nur, dass man sie anhört.

Die Anamnese, also das Patientengespräch, ist in den letzten zwanzig Jahren auf ein Fünftel der Zeit geschrumpft, die es vorher einnahm, sagt Max Ackermann, Medienwissenschaftler und Dozent an der Universität Erlangen, und dadurch ergeben sich oft schwerwiegende Behandlungsfehler. Die medizinische Fachzeitschrift MMW befragte kürzlich 171 Ärzte für ihre Pilotstudie »Gesundheitsfaktor Zuhören«. Das Ergebnis zeigte ganz klar, wie wichtig das Gespräch zwischen Arzt und Patient für den Heilungserfolg ist. Eine warmherzige, freundliche Zuwendung, die die Angst nimmt, verkürzt den Krankheitsverlauf – unabhängig von der sonstigen Behandlung – und verringert Nebenwirkungen.

Die Wirklichkeit, noch einmal: Patienten werden während einer Visite schon nach durchschnittlich 18 Sekunden Schilderung ihrer Leiden zum ersten Mal von ihrem Arzt unterbrochen, stellten amerikanische Soziologen fest. In Deutschland lassen Ärzte ihre Patienten durchschnittlich während einer Sprechstunde 103 Sekunden lang sprechen. Es redet in erster Linie der Arzt. Auch hier werden Herrschaftsverhältnisse demonstriert: Der Rangniedrigere, in diesem Fall der Patient, muss zuhören, also gehorchen, der Ranghöhere darf sprechen. Und ob der Patient überhaupt versteht, was der Arzt sagt, muss nicht entscheidend sein, denn wie bei Juristen dient die Fachsprache der Abgrenzung vom Nichtfachmann.

Das Zuhören ist halt kein Erfolgsrezept. Max Ackermann von der Uni Erlangen forscht seit 1990 über das Hören. Er fordert »eine Renaissance des Zuhörens«. Er bedauert, dass Zuhören »keinen klar definierten gesamtgesellschaftlichen Wert hat«, und somit hat es auch kein gutes Image, dazu ist es zu unauffällig. »Wenn man zuhört, sagt man nicht, was Sache ist. Und niemand wird dafür befördert, dass er gut zuhören kann, sondern dafür, dass er Entscheidungen treffen kann.« Wer zuhört, gerät in den Hintergrund des Geschehens, hat die Situation nicht unter Kontrolle. »Wer zuhört, verzichtet auf Selbstpräsentation«, sagt die Berliner Erziehungswissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr. »Und hat Angst zu verschwinden, zu kurz zu kommen.«

Und genau darum werden so viele Menschen beim Zuhören ganz nervös und warten nur auf eine Pause des anderen, um mit ihrer eigenen Geschichte zu beginnen. Jedoch: Die Selbstdarstellung des einen führt unmittelbar zur Selbstdarstellung des anderen – das ist das Gegenteil von wirklicher Kommunikation. Reden wird mit Stärke verwechselt, Zuhören mit Schwäche.

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard schrieb: »Nur wer wesentlich schweigen kann, kann wesentlich reden.« In der Liebe läuft das am Anfang ja immer super: Man ist kaum williger zu schweigen und zuzuhören als in der Phase der Verliebtheit. Man fragt nach den Vorlieben des anderen, seiner Lebensgeschichte, hängt an seinen Lippen, erfreut sich an seiner Stimme. Leider endet es oft so: Ein Ehepaar sitzt beim Mittagessen. Der Ehemann: »Was ist das Grüne in der Sauce?« Die Ehefrau: »Mein Gott, wenn es dir hier nicht schmeckt, kannst du ja woanders hingehen.«

Friedemann Schulz von Thun hat sich mit der Psychologie des guten Zuhörens befasst. Jede Äußerung, meint er, enthält vier Aspekte, auf die der Empfänger reagieren kann. Erstens die pure Information; zweitens die Selbstauskunft, die der Sprecher gibt, drittens enthält jede Nachricht eine Botschaft darüber, wie der Sender zum Empfänger steht: die Beziehungsbotschaft. Und viertens steckt dahinter immer ein Appell.

Gerade in Beziehungen tendieren Mann und Frau dazu, sich auf einen oder höchstens zwei Aspekte zu stürzen. Eine Freundin erzählte, sie hätte am Telefon nur einen, wie sie fand, netten Satz zu ihrem Freund gesagt: »Ich vermisse dich.« Darauf er, genervt: »Oh, jetzt setzt du mich schon wieder so unter Druck.« Friedemann Schulz von Thuns Interpretation: Der Freund hat weder die pure Information gehört (»schade, dass du nicht da bist«) noch die Selbstauskunft, also die Gefühlslage seiner Freundin (Sehnsucht), sondern nur den Appell (»bitte, vermisse mich auch«) und die Beziehungsbotschaft, in der sich der Konflikt der beiden zeigt (der eine vermisst es, vom anderen vermisst zu werden).

Wie oft begründen Liebespaare ihre Schwierigkeiten mitein-ander zu reden damit, dass der eine den anderen eben nicht verstehen könne? Dabei möchten sie das gar nicht, meint Michael Mary, Paartherapeut. Wenn man den anderen nämlich verstehen würde, wäre man bereit, ihm dahin zu folgen, wohin er geht – auf fremdes Gelände. Ein Liebender aber möchte seine eigenen Vorstellungen verwirklichen. Der Münchner Kommunikationstrainer Jürgen Heckel hält ein Gespräch unter Paaren nur dann für beide befriedigend, wenn sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptierten. Dazu müssten ihnen die Unterschiede allerdings erst einmal bewusst sein. Und sie müssten ertragen können, dass sie existieren, was schwer ist, denn die meisten Menschen, sagt Heckel, wünschen sich die gleiche Wellenlänge, weil sie sich dann geborgen fühlen. Und üben so unbewusst Druck aufeinander aus, die gleichen Gefühle zu haben.

Und dann sitzt man abends zusammen, mit dem besten Freund, der besten Freundin – und auf einmal funktioniert alles, das Zuhören, das Reden, das gegenseitige Verstehen. Eben da liegt er, der Unterschied. Ein Freund versucht, sich in den anderen hineinzuversetzen, die Welt mit seinen Augen zu sehen – ohne die Situation mit der eigenen zu vergleichen.

Nach diesen Kriterien müsste der Psychoanalytiker der perfekte Zuhörer sein. Die Theorie in der Psychoanalyse lautet: Wenn man sich zutiefst verstanden fühlt, kann man zu einer Selbstklärung gelangen. Freud, dessen Grundregel war, allem dieselbe Aufmerksamkeit entgegenzubringen, aber musste einsehen: »Sowie man seine Aufmerksamkeit bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man unter dem dargebotenen Material auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder Neigungen.«

»Das Zuhören spricht«, schrieb der französische Schriftsteller und Philosoph Roland Barthes, und das kann es nur unter einer Bedingung: Wenn es um Resonanz geht – nicht um Wertung. Darum, das Fremde fremd sein zu lassen, sich dem Fremden aber zu öffnen. Das sei das »neue Zuhören«.

Nun könnte man noch den ganz großen Bogen spannen, nämlich den vom Frieden auf Erden, oder sagen wir es etwas kleiner: Sogar Völkerverständigung könnte klappen, wenn man sich gegenseitig in aller Unterschiedlichkeit akzeptieren würde – wie gut bekäme das erst Kleinkrieg führenden Parteien und Ehepaaren auch. Das jedoch scheint das Schwerste auf der ganzen weiten Welt zu sein: sich dem Fremden zu öffnen. Und doch ist es das, was den verantwortungsvollen, politisch handelnden Menschen ausmacht. Wie schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr: »Das Zuhören ebenso wie das Sprechen ist Ausdruck eines Interesses, mit dem das Individuum sich aussetzen und das eigene System überschreiten will.« Ist es das, was wir hören wollen?